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Siegfried

Siegfried

Titel: Siegfried Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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Konzert der Myriaden von Heuschrecken in der tropischen Nacht, doch wenn er sich umdrehte, schwiegen sie schlagartig. Nachdem auch sein linkes Ohr zwanzig Jahre später in einer kalten Silvesternacht durch explodierendes Feuerwerk einen Schaden davongetragen hatte, hatte er die Feinheit seines Gehörs endgültig verloren. Seitdem war Musikhören ebensowenig noch ein Vergnügen wie das Essen.
    »So ist man für alle Zeiten noch zu etwas nütze …« sagte er leise, ohne die Augen zu öffnen. Auf Kuba war er, um sich von der Eichmannschen Krankheit zu erholen. Er hatte fünf Jahre zuvor dem Prozeß in Jerusalem beigewohnt; auch darüber hatte er ein Buch geschrieben. Wochenlang, tagein, tagaus, hatte er den grauenhaften Geschichten der überlebenden Juden aus den Vernichtungslagern zugehört, während der Bühnenmeister der Tragödie in seinem gläsernen Käfig allmählich verrückt zu werden schien. Sein Vorgesetzter, SS-Regisseur Himmler, hatte schon vor langer Zeit Selbstmord begangen, genau wie noch früher der Autor dieses chromatischen Völkermords, dieser geniale Meister des Massenmords, dem er jetzt wieder – hoffentlich zum letzten Mal – begegnet war. Für ihn selbst, Herter, war das stumpfsinnige Ende des Lieds, daß er nicht nur Tristan und Isolde oder die Götterdämmerung nicht mehr wirklich genießen konnte, sondern Die Kunst der Fuge auch nicht mehr … Hitler … von der Wiege bis zu seinem nicht vorhandenen Grab war die Freude, die er bereitet hatte, immer nur größer geworden. Zu Anfang, bei seiner Geburt, freuten sich nur seine Eltern; später beglückte er das ganze deutsche Volk, dann auch das österreichische; und als er starb, freute sich die ganze Menschheit … Diesen Gedanken mußte er notieren oder notieren lassen, nachher hatte er ihn möglicherweise vergessen. Doch die Trägheit hatte ihn schon zu stark im Griff. Er begann zu rechnen und kam zu dem Ergebnis, daß Hitler jetzt nahezu ebenso viele Jahre tot war, wie er gelebt hatte … Nach dem Untergang des Nazireichs hatten sich Deutschland und Österreich zu anständig geordneten Staaten entwickelt, während in Rußland nach dem Verschwinden des Sowjetregimes eine surrealistische Anarchie ausgebrochen war. Gleich um die Ecke, auf dem Balkan, war das Morden gerade erst wieder in vollem Gang, wenn auch auf altmodische, vorindustrielle Weise, über die Hitler nur verächtlich die Achseln gezuckt hätte. Doch in ein paar Jahren würde man dieses konventionelle Massaker vergessen haben. Was war weiter weg: die blutige Handarbeit in Jugoslawien oder die massenhafte Menschenvernichtung in Auschwitz? Von Wien aus war man innerhalb einer Dreiviertelstunde auf dem Balkan, doch die fünfundfünfzig Jahre zum Zweiten Weltkrieg waren unüberbrückbar. Dennoch war dieser Krieg ihm näher, gleich um die Ecke der Zeit … Allmählich gehörte er zu der letzten Generation, die noch genaue Erinnerungen hatte – unbedeutende im Vergleich zu den Schrecken, die viele andere durchlebt hatten, und trotzdem durchdrungen von den unsichtbaren, giftigen Gasen, deren Schwaden nach dem nationalsozialistischen Vulkanausbruch Europa bis in die hintersten Winkel durchzogen. Er sieht sich, eines Abends kurz nach Beginn der Sperrstunde, durch eine dunkle Straße nach Hause gehen, auf Zehenspitzen, dicht an den Häusern entlang, um nicht gesehen zu werden; die Straßenlampen sind ausgeschaltet, alle Fenster verdunkelt. Kein Geräusch ist zu hören in der Stadt. Dann entdeckt er im Licht der Sterne etwas weiter entfernt auf einer Kreuzung zwei Landsturmmänner mit Helmen und Karabinern, Holländer in deutschen Diensten, die langsam hin und her gehen und sich unterhalten. Rasch verschwindet er in einem Hauseingang und bleibt stehen, mit offenem Mund so leise wie möglich atmend, mit vor Angst pochendem Herzen … Das war der Krieg. So ging man während des Kriegs abends nach Haus. Eine mikroskopisch kleine Facette dessen, was an diesem Abend überall passierte, in den Konzentrationslagern, in den Kellern der Gestapo, in den bombardierten Städten, an der Front, auf See, in der Luft – doch auch diese kleine Angst, die Finsternis und Stille dieses Augenblicks waren Teil des unendlichen Lavastroms der Vernichtung, der sich aus dem Krater Hitler ergoß und den ganzen Kontinent überflutete, und den Nachgeborenen konnte man es nicht erklären … In jeder Hinsicht war diese Kreatur gescheitert, zunächst als Künstler in Wien, dann als Politiker in Berlin; er wollte den

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