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Siegfried

Siegfried

Titel: Siegfried Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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schreibt einen Roman über das Tristan-und-IsoldeThema, Herr Ernst dirigiert Tristan und Isolde , und nun sitzen beide bei uns am Tisch.« »Das ist überhaupt kein Zufall, meine Liebe«, sagte Schimmelpenninck. »Im Gegenteil. Herrn Herter ist es wieder einmal gelungen, die Wirklichkeit nach seinem Wunsch zu gestalten.« »Je maintiendrai«, sagte Herter und deutete auf den Spruch im Wappen auf seinem Teller. Der Botschafter hob sein Glas. »Darauf trinken wir.«
    Als Ernst eine lobende Bemerkung über das Haus machte, erzählte Schimmelpenninck, daß Richard Strauss darin gelebt habe, und auch dies sei natürlich kein Zufall. Herter sah sich um, als könne er noch irgendwo den Geist des Komponisten entdecken. Hier hatte er mit Hugo von Hofmannsthal gesessen und das Libretto zu Die Frau ohne Schatten besprochen ; auch er selbst hatte Opernlibretti geschrieben, er kannte diese Art von Gesprächen, sie ähnelten denen von Ehepaaren, wobei der Komponist die Rolle der Frau spielte.
    »Strauss ist ohne Wagner nicht denkbar«, bemerkte Ernst.
    Mit dem Blick eines Kriminalbeamten sah Herter ihn an und fragte: »Was ist Wagners Geheimnis?«
    »Seine Chromatik«, erwiderte der Dirigent, ohne auch nur eine Sekunde zu zögern. Plötzlich war er in seinem Element. »Die deutet in gewisser Weise schon auf Schönbergs Zwölftontechnik voraus. Seine endlosen Melodien gelangen nie zur Auflösung im Grundton, so wie bei allen früheren Komponisten, sie schweben immer knapp daran vorbei – das ist das Berauschende seiner Musik, dieses Schmachtende, dieses unerfüllte Verlangen, diese aufgeschobene Erfüllung.«
    »Also eigentlich eine Art musikalischer Coitus interruptus«, nickte Schimmelpenninck. »Rutger, beherrsch dich«, sagte seine Frau. »Ich denke nicht daran.«
    »Ihr Mann hat vollkommen recht, Frau Schimmelpenninck. Die letztendliche harmonische Auflösung kommt in Tristan und Isolde erst zum Schluß, mit dem erlösenden Tod, wenn auf der Bühne eine schwarze Fahne weht. Eigentlich gibt es nur drei Opern auf der Welt. Die erste ist Orfeo von Monteverdi, die zweite ist Don Giovanni von Mozart. Wagner war natürlich ein widerliches Individuum, ein Antisemit erster Klasse, doch mit Tristan und Isolde hat er die dritte Oper geschrieben.«
    »Letztendliche harmonische Auflösung …« wiederholte Herter langsam, während er mit starrem Blick das rote Fleisch auf seinem Teller betrachtete. Weil ihm vor Jahren der Magen entfernt worden war, würde er nicht einmal ein Viertel davon essen können. Er sah auf. »Harmonische Endlösung könnte man vielleicht auch sagen. Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik.«

5
    »So heißt ein Buch, das Nietzsche als junger Mann zu Ehren Wagners geschrieben hat«, sagte er, wieder in ihrer Suite angekommen, und zog sein Jackett aus. »Er hat den Titel anders gemeint als ich, aber ich meine ihn jetzt so.« Er öffnete die Krawatte und hielt inne. »Ich weiß nicht, was mich eigentlich beschäftigt. Vielleicht begebe ich mich damit ja auch auf allzu heißes Pflaster.« »Du siehst etwas blaß aus.«
    »Ich fühl mich wie das zwanzigste Jahrhundert. Ich glaub, ich leg mich hin und schlafe ein wenig. Vielleicht werde ich dadurch schlauer.«
    »Ruf dann bitte zuerst kurz Marnix an«, sagte Maria, während sie sein Jackett aufhängte. »Heute ist Mittwoch, er ist jetzt zu Hause. Gestern hat er auch schon nach dir gefragt.«
    Herter setzte sich aufs Bett und wählte die Nummer seiner Frau Olga. Als er ihre Stimme hörte, wußte er sofort, daß sie heute einen guten Tag hatte: Sie klang wie ein heller Frühlingsmorgen, doch es hätte auch ein nebliger Novembernachmittag sein können. Ihr Freund, ein Kardiologe, mit dem sie zusammenwohnte und der auch nicht schlau wurde aus ihr, hatte ihm gegenüber schon mal gemeint, die Universität von Amsterdam solle doch einen Lehrstuhl für Olgalogie einrichten. Während er sich die Schuhe auszog, berichtete er Olga von seinen Erlebnissen in Wien, was sie sich geduldig anhörte, ohne jedoch besonderes Interesse daran zu zeigen. Anschließend über nahm sein Sohn den Hörer, und der kam sofort zur Sache: »Papa, wenn ich sterbe, möchte ich verbrannt werden.« »Ach? Und warum nicht begraben?«
    »Meine Asche soll dann in die Sanduhr kommen, die in deinem Arbeitszimmer steht. So ist man für alle Zeiten noch zu etwas nütze.«
    Herter schwieg erschrocken.
    »Papa?«
    »Ja, ich bin noch dran. Die Sanduhr wird dann also zur Ascheuhr.«
    »Ja!« lachte

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