Siegfried
Marnix.
»Aber du stirbst noch lange nicht. Du lebst noch hundertzehn Jahre, du wirst das zweiundzwanzigste Jahrhundert noch erleben. Bis dahin kriegen die Ärzte das hin.« »Die sind noch nicht einmal geboren!«
»Das stimmt. Die müssen noch eine Weile warten.«
Sie unterhielten sich noch ein wenig, doch Herter war mit seinen Gedanken woanders. Als sie das Gespräch beendet hatten, erzählte er Maria, was Marnix über seine Asche gesagt hatte.
»Apropos erblich vorbelastet …« sagte sie und sah ihn aus den Augenwinkeln an.
»Es gibt ein chinesisches Sprichwort, das lautet: Große Menschen sprechen über Ideen, mittelgroße über Ereignisse, kleine über Menschen. Es liegt auf der Hand, zu welcher Kategorie er gehört.«
»Wenn er deswegen mal bloß nicht irgendwann Probleme bekommt.«
Nachdenklich betrachtete Herter den Teppich zwischen seinen Füßen.
»In der Literatur geht es um alle drei, doch meistens fehlen die Ideen.« Er legte sich hin, schaltete sein Hörgerät aus und sah zur Decke. Langsam wiederholte er Marnix' Worte:
»So ist man für alle Zeiten noch zu etwas nütze …«
»Was sagst du?«
»Marnix drückte sich so aus. So ist man für alle Zeiten noch zu etwas nütze. Schreib das kurz auf. Den Satz kann ich vielleicht irgendwann einmal gebrauchen.«
Während sie ihm die Bitte erfüllte, schloß er die Augen. Vielleicht erlebte Marnix das zweiundzwanzigste Jahrhundert, doch eines Tages würde auch er tot sein, und dann konnten die Lebenden bis in alle Ewigkeit die Zeit mit seiner Asche messen. Die Ascheuhr: das aufrecht stehende Symbol des mathematisch Unendlichen. Ewig, unendlich … das war ziemlich lang, aber die ganze Welt existierte bereits seit langem in Raum und Zeit und würde noch lange existieren. Bereits in hundert Jahren würde die Welt für die heute Lebenden nicht wiederzuerkennen sein, vermutlich noch weniger, als Menschen, die vor hundert Jahren gelebt hatten, die heutige wiedererkennen würden. Und wie würde es in tausend Jahren sein? In zehntausend? Hunderttausend? Man konnte sich fast nicht vorstellen, daß diese Zeit einmal kommen würde, und dennoch würde sie kommen. Dreh die Ascheuhr nur wieder um. Eine Million Jahre? Hundert Millionen? Zähl ruhig weiter. Nichts ist so geduldig wie Zahlen. Eines Tages, in vier oder fünf Milliarden Jahren, würde die Sonne zu einem roten Riesen anschwellen und auch die Erde verschlucken, um sich dann langsam in Schlacke zu verwandeln. Danach würde es keine Tage mehr geben – doch das spielte keine Rolle, denn bis dahin würde der Mensch sich bis tief ins Weltall ausgebreitet haben – die Wesen jedenfalls, die sich aus ihm entwickelt hatten. Jetzt, ungefähr in der Mitte der Lebensspanne unseres Sonnensystems, müßte man für einen einzigen Moment mit der Klarheit des Heute die Abgründe der Vergangenheit und der Zukunft überschauen können. Doch wie gelangte man zu diesem Moment?
Eine Sekunde lang öffnete er die Augen, wie um sich zu vergewissern, daß er immer noch hier war, jetzt, in Wien, im Sacher. Maria saß in einem kleinen Sessel am Fenster und feilte ihre Nägel – ihr Bild blieb wie ein Foto auf seiner Netzhaut hängen. Maria, ihre Nägel feilend; Belichtungszeit: 1 Sekunde.
Er dachte an Constant Ernst, der sein Leben der Musik gewidmet hatte. Auch ihm selbst hatte die Musik mehr bedeutet als die Literatur, das heißt, die Literatur anderer Autoren, doch das war Vergangenheit, seit er einen entscheidenden Teil seines Hörvermögens auf dem Altar der Revolution hatte opfern müssen. Zusammen mit ein paar Dutzend anderer Künstler und Intellektuellen war er 1967 auf Kuba, weil er ein Buch über das Land schreiben wollte. Am Tag vor den offiziellen Feierlichkeiten zum Jahrestag von Fidel Castros mißglücktem Revolutionsversuch am 26. Juli 1953 wurden sie per Flugzeug nach Santiago gebracht, in die heiße Provinz Oriente im Osten der Insel. Dort schreckte ihn am nächsten Morgen bei Sonnenaufgang ohrenbetäubender Kanonendonner aus dem Schlaf. Einen Moment lang dachte er, die amerikanische Invasion habe begonnen, doch es waren nur sechsundzwanzig Salutschüsse, die eine Batterie von Luftabwehrkanonen gleich neben dem Gebäude abfeuerte, in dem sie untergebracht waren. Stundenlang summte es in seinen Ohren – und drei Tage später, in der Nacht vor seinem vierzigsten Geburtstag, entdeckte er plötzlich, daß er magische Kräfte über die Natur erlangt hatte. Wenn er auf der rechten Seite lag, hörte er das laute
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