Siegfried
Bolschewismus vernich ten, hatte ihn aber bis in das Herz Deutschlands gelockt, er wollte die Juden vernichten, bewirkte aber die Gründung des Staates Israel. Allerdings war es ihm gelungen, fünfundfünfzig Millionen Menschen mit in den Tod zu reißen – und vielleicht war genau das seine eigentliche Absicht. Wenn er die Möglichkeit gehabt hätte, die ganze Welt in die Luft zu sprengen, dann hätte er es getan. Der Tod war der Grundton seines Wesens. Wie konnte er herausfinden, ob sich nicht doch irgendwo ein winziges bißchen Liebe zum Leben in diesem Sterblichen versteckte? Vielleicht mit Hilfe seines Lieblingshundes? Oder mit Hilfe Eva Brauns, die er in letzter Minute noch geheiratet hatte? Warum? Wie mußte ein Versuch aufgebaut sein, um ihn unter so hohen Druck zu setzen, daß er en face sein ganzes Gesicht zeigen mußte …? Ein Spiegel, hatte er zu Ernst gesagt. Eine Spiegelmaschine … Sein Atem geht ruhiger. Er sitzt am Rand eines großen Weihers neben Olga, sie zeigt ihm Fotos, doch das grelle Sonnenlicht auf dem Wasser blendet ihn … plötzlich wird er gewaltsam von einem Mann und einem Jungen entführt … als er das Zimmer sieht, in dem sie ihn einschließen, ruft er: »Ja, hier möchte ich wohnen!« … das bringt die beiden in Verlegenheit, aber sie können nicht zurück, so daß sie zu seinen Gefangenen geworden sind …
6
»Hast du dich etwas vorbereitet?« fragte Maria im Aufzug.
»Natürlich. Du hast doch gesehen, daß ich geschlafen habe.«
»Hast du das Buch mit?«
»Irgend jemand hat bestimmt eins dabei.«
Um sechs Uhr fand im Café des Sacher eine Vorbesprechung statt mit Frau Klinger, der Vorsitzenden der literarischen Gesellschaft, die die Lesung organisierte, und einem Kritiker, einem sehr ernsten jungen Mann, der sich mit »Marte« vorstellte. Er hatte kurzes Haar, einen silbernen Ring im linken Ohr und trug über seiner Schulter eine Art Jagdtasche mit allerlei Unterlagen. Als Herter auch ein Exemplar von Die Erfindung der Liebe darin entdeckte, bat er darum, nachher daraus vorlesen zu dürfen. Viel zu besprechen gab es nicht, die Veranstaltung würde wie immer ablaufen: Nach der Einleitung würde er etwas über seinen Roman erzählen, dann eine Dreiviertelstunde daraus vorlesen, und anschließend durfte das Publikum Fragen stellen; Marte würde das Ganze moderieren. Herter bat ihn, die Fragen immer kurz zu wiederholen, denn er sei ein wenig schußtaub, wie man in Militärkreisen sage. Ob er lieber stehen oder lieber sitzen wolle? Lieber sitzen. Was er trinken wolle? Wasser, bitte, ohne Gas. Es würde auch einen Büchertisch geben – ob er bereit sei zu signieren? Natürlich sei er bereit zu signieren. Er schreibe für sein Leben gern, sagte er. Anschließend gebe es einen Vin d'Honneur mit Häppchen. Nach einer halben Stunde erschien ein jungenhaft wirkender Mann in den Vierzigern, der mit seinen roten Haaren und seiner blassen Haut wie ein Ire aussah, sich aber mit Wiener Schmelz als Direktor des Sacher vorstellte. Es sei ihm eine Ehre, Herrn Doktor Herter die Hand schütteln zu können, und ob er so frei sein dürfe, sie zur Nationalbibliothek zu fahren; zum Josefsplatz seien es nur zehn Minuten zu Fuß, doch das Wetter sei schlecht, und er selbst wolle die Lesung auch gern besuchen. Vor der Tür wartete der Rolls-Royce des Hotels, der dieselbe braune Farbe hatte wie die berühmte Torte. Weil er keine Lust hatte, sich zu unterhalten, nahm Herter neben dem Chauffeur Platz. Abgesehen von einer Gruppe verstockter Herterhasser in seinem eigenen Land hatten ihn alle stets um so freundlicher behandelt, je älter er wurde. Doch im Bewußtsein, daß eigentlich niemand wußte, wer er wirklich war, saß er am liebsten zu Hause in seinem Arbeitszimmer, allein, ohne Verabredungen, ohne Telefon, den Tag in jungfräulicher Unversehrtheit vor sich. Schon als er noch jeden Tag zur Schule mußte, war dies für ihn etwas, was ihn von seinen eigentlichen Aktivitäten abhielt, doch seine Lehrer schlossen aus seinen schlechten Noten, daß er faul und dumm sei und daß nie etwas aus ihm würde. Zum Glück hatten sie noch einige Jahre Gelegenheit festzustellen, daß er das Gegenteil von faul war und wer von ihnen tatsächlich dumm war: er oder sie. Von all den guten Schülern, die sie ihm kopfschüttelnd als gutes Bespiel genannt hatten, hatte nie wieder jemand etwas gehört.
Die Nationalbibliothek war ein Teil der Hofburg, des großen kaiserlich und königlichen Komplexes aus Palästen und
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