Siegfried
Regierungsgebäuden, von wo aus Jahrhunderte lang ein Weltreich verwaltet worden war, der sich jetzt aber in den Wasserkopf eines Zwergs verwandelt hatte. Am Eingang der Bibliothek, unter dem Schirm, den der Chauffeur über seinen Kopf hielt, begrüßte ihn der Direktor, Herr Dr. Lichtwitz, der ihn über die Marmortreppen in den kolossalen, barocken Prunksaal führte, den offiziellsten Ort Österreichs. Auch Schimmelpenninck war wieder da, die Nadelstreifen auf seinem dunkelblauen Anzug waren auf wundersame Weise verschwunden. Ein paar hundert Menschen saßen bereits unter der reichbemalten Kuppel, doch weil immer noch Stühle aus einer Seitentür herangeschafft wurden und auch noch ein Tisch neben dem Pult aufgestellt werden mußte, warteten sie, bis jeder einen Platz gefunden hatte.
Als Herter den Saal betrat, wurde applaudiert, und wie immer kostete es ihn einige Mühe, zu den Hunderten von Gesichtern zu schauen, die sich in seine Richtung drehten, gerade weil er kein einzelnes Gesicht in sich aufnehmen konnte und obgleich er wußte, daß jeder dieser Menschen einige Stunden seines Lebens seinen Büchern gewidmet hatte. Das machte ihn verlegen – und vielleicht war es genau das, dachte er, während er sich zu dem für ihn reservierten Stuhl in der Mitte der ersten Reihe führen ließ, was ihn von Hitler unterschied, der in dieser Anonymität der Masse gerade in seinem Element war: im Element seiner eigenen Individualität, die als einzige zählte, im Gegensatz zu all den Hunderten, Tausenden, Millionen, die er ohne Zögern in den Tod schickte. Herter bemerkte, daß er schon wieder bei der Arbeit war, doch nicht bei der, wofür er hierhin eingeladen worden war. Am liebsten hätte er den Saal gleich wieder verlassen, um im Hotel Notizen zu machen. Nach den Begrüßungsworten Schimmelpennincks, der ihn als kulturellen Botschafter der Niederlande pries, verglich Lichtwitz ihn mit Hugo de Groot – er sagte »Grotius«. Überrascht sah Herter auf. Man hatte ihn schon mit Homer, Dante, Milton und Goethe verglichen, doch Hugo de Groot war neu. Um diesen Vergleich zu relativieren, grüßte er kurz aristokratisch-militärisch, mit leicht gewölbter Hand, wie sein Vater auf Fotos aus dem Ersten Weltkrieg. Er wußte, daß diese Geste riskant war, denn sie nahm den Anwesenden etwas von der Verehrung, deren sie bedurften – doch er wußte auch, daß er verloren war, wenn er sich selbst für einen zweiten Homer, Dante, Milton, Goethe oder Hugo de Groot hielt. Es gab nur eine Person, mit der er sich identifizieren durfte, wollte er der bleiben, der er war, und das war der Junge hinter den Eisblumen von damals. Hitler hingegen, dieser Absolutist, der identifizierte sich mit Alexander dem Großen, Julius Cäsar, Karl dem Großen, Friedrich dem Großen und Napoleon, während er gleichzeitig seine Jugend vollkommen beiseite schob.
Auch Frau Klinger war stolz auf ihn. Sie nannte einige seiner Auszeichnungen und Preise, erwähnte die Ehrenbürgerschaft seiner Geburtsstadt, die Mitgliedschaft in der österreichischen Academia Scientiarum et Artum Europaea und berichtete, daß seine Bücher in dreißig Ländern erschienen, sogar in China. Nachdem sie kurz auf einige seiner bekanntesten Werke eingegangen war, erinnerte sie daran, daß Herters Vorfahren aus Wien stammten.
»Der große niederländische Autor Rudolf Herter ist auch ein wenig unser Autor«, beschloß sie ihre Rede. »Wenn ich Sie bitten dürfte?«
Sie hätte es ihm nicht schwerer machen können. Beim Aufstehen schwankte er kurz, was er geschickt ausglich, doch natürlich hatte jeder es gesehen, und sei es auch nur, weil Maria rasch ihre Hand ausgestreckt hatte. Der Kritiker reichte ihm seinen Roman. Herter nahm am Tisch zwischen Säulen und mannshohen Marmorskulpturen Platz und betrachtete einige Sekunden lang die sich bietende Szenerie. In der Horizontalen die vielen hundert Gesichter, dahinter, zwanzig Meter hoch, unterbrochen von einer Galerie, die Tausende kostbarer Bücher aus der Bibliothek der Habsburger. Sein Leben hatte viele Höhepunkte gehabt, doch dieser Augenblick war für ihn einer der spektakulärsten: Jetzt hätte sein Vater ihn sehen sollen. Als er zu reden begann, waren seine Müdigkeit und Geistesabwesenheit schlagartig verschwunden. Er erzählte ein wenig über die lange Entstehungsgeschichte von Die Erfindung der Liebe und darüber, welche Rolle das Tristan-Epos darin spielt, das er mit bestimmten persönlichen Erfahrungen verknüpft hatte. Welche
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