Siegfried
Herter.
»Ein Junge«, sagte Julia. Sie blickte kurz zu dem Foto auf dem Fernseher hinüber, und plötzlich hatte sie Tränen in den Augen. Fragend sah Herter zu Falk, der nickte.
»Da war bereits Krieg. Das Foto hat Fräulein Braun gemacht.«
»Darf ich kurz?«
Herter stand auf und betrachtete das Foto aus der Nähe. Bekleidet mit einem weißen Hemd, einer kurzen weißen Hose und weißen Kniestrümpfen, stand der kleine Junge breitbeinig und selbstbewußt auf einer Terrasse und biß in ein Butterbrot. Der Blick in seinen Augen erinnerte tatsächlich ein wenig an den durchbohrenden Blick, der so typisch für seinen Vater war. Sein Vater? War das wirklich Hitlers Sohn? Der Gedanke schien Herter immer noch völlig absurd, aber warum eigentlich? »Auf seinem Butterbrot war Zucker«, sagte Julia. »Ich habe es ihm selbst gemacht. An seiner Seite, das bin ich.«
Jetzt, wo er es wußte, erkannte er sie. Die schlanke junge Frau von Ende Zwanzig schimmerte noch immer durch Julia hindurch, wie eine Gestalt hinter Mattglas, während man umgekehrt noch nichts von der dicken, uralten Dame ahnte, die sie werden würde. Herter wandte sich um. »Wie hieß er?«
»Siegfried«, sagte Falk mit einem Seufzer, der gleichzeitig ein Seufzer der Erleichterung zu sein schien, weil er nun endlich von dem Geheimnis befreit war, das er sein Leben lang mit sich herumgetragen hatte.
»Natürlich«, sagte Herter, während er kurz seine Hand hob und wieder Platz nahm. »Siegfried. Ich hätte es mir denken können. Der große germanische Held, der das Fürchten nicht kannte. So hat Wagner seinen Sohn auch genannt. Und wie reagierte der Chef auf die Geburt seines Sohns?« Hofmarschall Brückner hatte ihn unten über die Geburt informiert, erzählte Frank, und als er bleich das Zimmer betrat, Bormann folgte ihm auf dem Fuß, und sein Patscherl dort mit dem Kind an der Brust liegen sah, schien es, als sei ihm nicht recht bewußt, was dort geschah. Er war mit seinen Gedanken ganz woanders – nämlich bei seinem ersten Pogrom, das er für dieselbe Nacht befohlen hatte. Wie sie am nächsten Tag hörten, brannten überall in Deutschland und Österreich die Synagogen, und die Fenster jüdischer Geschäfte wurden zerschlagen. »Reichskristallnacht« nannte man das Ereignis später – es war derselbe
9. November, an dem 1918 der deutsche Kaiser abgedankt hatte, an dem 1923 Hitlers Putsch in München gescheitert war und an dem 1989 die Berliner Mauer fiel.
»Das endgültige Ende seines Wirkens und dessen Folgen«, sagte Herter, »kam also Sechsundsechzig Jahre nach dem Beginn. Beinah die Zahl der Bestie. Genau hundert Jahre nach seiner Geburt.« Auf unheimliche Weise stimmte bei Hitler immer alles.
Aber der Chef fing sich rasch, und es sah so aus, als habe er sein Pogrom mit einemmal vergessen. Fräulein Braun war sehr glücklich, daß sie ihm keine Tochter geboren hatte, und nachdem er ihr einen steifen Handkuß gegeben hatte, legte Julia ihm vorsichtig das Kind in den Arm. Er wußte nicht so recht, wie er es halten sollte, drückte Siegfried gegen das Eiserne Kreuz auf seiner
Brust, sah sich in einer Art ungeschickter Ekstase um und sagte feierlich. »Ein Kind ward hier geboren.«
Hausmeister Mittlstrasser flüsterte ehrfürchtig, dies sei ein Zitat aus einer Oper von Wagner. Nur Bormann, berichtete Julia, schien irgendwie von der Geburt des Kindes nicht erbaut zu sein; er betrachtete es, als würde er am liebsten nach seinem Ausweis fragen.
Dann kam wieder eine Zeit, die nicht ungefährlich war: Ullrich fuhr mit Mittlstrasser nach Berchtesgaden zum Standesamt, um das Kind anzumelden: Siegfried Falk – anstatt Siegfried Braun. Im Wochenbett empfing Julia während der nächsten Tage den Besuch der Sekretärinnen und des anderen Personals, wobei ihr Zimmer sich in einen Blumenladen verwandelte. Auch ihre Eltern durften sie auf dem Berghof besuchen. Das sei, sagte Julia, für sie der schwerste Moment in der ganzen Komödie gewesen: als ihre Mutter vor Glück weinend ihren angeblichen Enkel in die Arme nahm. Ihren Vater hingegen, der seine SS-Uniform trug, schien das Heilige der Heiligen, in dem er sich befand, mehr zu faszinieren als sein Enkel. Nach einer Woche erlaubte Dr. Krüger der angeblichen Frau Falk, und damit auch Julia, langsam wieder mit der Arbeit anzufangen. Fräulein Braun, die ihrem Kind heimlich die Brust gab, kehrte um diese Zeit geschwächt und müde von ihrer langen Reise heim – in tiefster Nacht, wie sie sich ausdrückte,
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