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Siegfried

Siegfried

Titel: Siegfried Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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von der Geschwindigkeit, mit der das Blei hineingegossen worden war, und daß auch jeder andere Mensch es hergestellt haben könnte. Doch gleichzeitig wußte er, daß es nicht von jemand anders, sondern von Hitler stammte. Er hatte es gemacht, und er hatte es nicht gemacht. Entfernt erinnerte es ihn an den Basilisken, von dem Thomas Mann geschrieben hatte – doch er war sich nicht sicher, ob ihm dieser Gedanke auch gekommen wäre, wenn man ihm gesagt hätte, Gandhi habe das Ding gemacht. Irgendwie erinnerte ihn der Anblick dieses Metallstücks an Hitlers todesbleiche Stirn. Als er es ohne Kommentar zurückgeben wollte, sagte Falk: »Ich schenke es Ihnen.«
    Herter nickte und steckte das Metallstück schweigend in die Brusttasche seines Oberhemds. Etwas hielt ihn davon ab, sich bei Falk zu bedanken.
    Und dann die langen Sommernachmittage auf der großen Terrasse über der Garage oder im Schwimmbad von Görings Villa … Außerdem unternahm Fräulein Braun hin und wieder Reisen zu ihren Verwandten in München oder zu einer Freundin in Italien, während deren sie auf Julia nicht verzichten konnte, die wiederum ihren Sohn nicht allein lassen konnte; vorne im Wagen saßen der Chauffeur und ein Gestapo-Mann, während sie auf dem Rücksitz zu dritt Spiele machten, Siggi wuchs zu einem äußerst lebhaften Jungen heran, der nicht einen Moment seinen Mund halten oder ruhig sitzen konnte. Er redete in einem fort, auch mit Blondi und den Hündchen von Fräulein Braun; wenn er etwas machte, dann sagte er außerdem, daß er es tue; während er sich zugleich rückwärts in einen Sessel fallen ließ, die Kissen knuffte, einen Purzelbaum vollführte, einen Kopfstand machte oder wie ein kleines Monster über den Fußboden kroch, wobei er gleichzeitig der Mama oder Tante Effi oder Onkel Wolf fragend zurief, ob sie auch sähen, was er gerade machte. Onkel Wolf, wiederholte Herter in Gedanken. Was faszinierte Hitler bloß so an Wölfen? Nur die Tatsache, daß auch sie Raubtiere waren? Während der zwanziger Jahre war »Wolf« sein Deckname, seine später erbauten Hauptquartiere in Ostpreußen, Rußland und Nordfrankreich hießen »Wolfsschanze«, »Werwolf« und »Wolfsschlucht«. Auch Blondi sah einem Wolf ähnlich; einen der Welpen, die sie gegen Ende des Kriegs warf, und den er selbst aufziehen wollte, hatte er »Wölfi« genannt. Homo homini lupus – der Mensch ist dem Menschen ein Wolf. Steckte diese Selbsterkenntnis dahinter?
    Im Sommer '41 hatte das Unternehmen Barbarossa begonnen – doch was ihn selbst angehe, sagte Falk, so sei das eigentlich an ihm vorbeigegangen. Auch er hatte einmal als kleiner politischer Aktivist mit der Pistole in der Hand angefangen, doch seit sich die große Politik unter seinen Augen vollzog, während er Kaffee und Kuchen servierte, konnte er sie nicht mehr begreifen, und er verlor das Interesse daran. Erst nach dem Krieg ist ihm klargeworden, was der Chef während der Zeit alles angerichtet hatte, was er zum Beispiel mit Himmler auf ihren langen Wanderungen zum Teehaus, mit Wanderstöcken und Sonnenbrillen, besprochen hatte, außer Hörweite des Gefolges. Nicht einmal Fegelein nahm je daran teil. »Fegelein?« wiederholte Herter. »Wer war Fegelein?«
    »SS-Gruppenführer Fegelein«, sagte Falk. »Ein charmanter, junger Offizier im Generalsrang, Himmlers persönlicher Stellvertreter bei Hitler. Er wurde ›Himmlers Auge‹ genannt. Auf Hitlers Drängen hin hatte er Fräulein Brauns Schwester Gretl geheiratet. Das war natürlich geschehen, um Fräulein Brauns Ansehen am Hof zu steigern, als Schwägerin von General Fegelein. Anläßlich ihrer Hochzeit veranstaltete Hitler ein großes Fest, doch Gretl war Fegelein ziemlich egal.« »Er war weiterhin hinter jedem Rock her«, sagte Julia mit einer Miene, die zum Ausdruck brachte, daß es unterschiedliche Grade von Niedertracht gab. »Fürchterliche Szenen waren das jedesmal.« An der Ostfront, fuhr Falk fort, wurden schon damals hinter den Linien Zehntausende ermordet, und im Sommer '42 fuhren die ersten Züge zu den Vernichtungslagern durch Europa. Er schüttelte kurz den Kopf, als könne er immer noch nicht glauben, was er sagte.
    »Alles verlief, wie er sich das von Anfang an vorgenommen hatte. Mit jedem Tag kam er seinem großen Lebensziel näher, der totalen Vernichtung des Judentums, ohne daß jemand von uns davon auch nur etwas geahnt hätte. Auch Fräulein Braun nicht.« »Im nachhinein glauben wir«, sagte Julia, »daß er damals in einem

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