Siegfried
Zustand des Rauschs war. Er war fest überzeugt, bis in alle Ewigkeit als Retter der Menschheit und größte Gestalt der Weltgeschichte verehrt zu werden. Dadurch veränderte sich auch das Verhältnis zu seinem Sohn.«
Es fiel allen auf, daß er Siggi mit der Zeit mehr Aufmerksamkeit schenkte, jedenfalls wenn keine Außenstehenden in der Nähe waren. Falk hatte einmal gesehen, wie er in seinem Arbeitszimmer Siggi auf dem Arm trug und ihm, wobei er auf den Untersberg deutete, etwas erzählte. Oder Siggi saß auf seinem Schoß, und Hitler zeichnete für ihn ein naturgetreues Stadtbild Wiens, was er sehr gut konnte, denn er hatte Talent und ein fotografisches Gedächtnis; dabei hatte er seine Lesebrille auf, von deren Existenz Deutschland nichts wissen durfte. Ein andermal – kurz nach dem vernichtenden Bombenangriff auf Hamburg im Juli '43 – kniete er auf dem Fußboden, und die beiden spielten zusammen mit einem Schuco-Auto, das er ihm geschenkt hatte: ein Spielzeugauto von damals, das man aufziehen und mit einem Draht, der aus dem Dach ragte, steuern konnte. Um kein Mißtrauen zu erregen, konnte er ihm natürlich nur sehr einfache Geschenke machen. Und Julia hörte einmal, wie er auf der Terrasse im Beisein von Fräulein Eva zu Bormann sagte:
»Vielleicht gründe ich eine Dynastie. Dann adoptiere ich Siegfried, so wie Julius Cäsar den späteren Kaiser Augustus.«
Er sagte das lachend, doch vielleicht war es mehr als ein Scherz. Er war zu allem fähig.
13
Immer häufiger zog Hitler sich für Wochen oder Monate in sein Hauptquartier in Ostpreußen zurück. An der russischen Front kamen seit der Schlacht um Stalingrad die jüdisch-bolschewistischen Untermenschen besorgniserregend näher, und auch in Nordafrika lief es nicht wie gewünscht, so daß man sich Jerusalem, das jüdische Ziel dieses Feldzugs, leider aus dem Kopf schlagen mußte; gleichzeitig verwandelten sich unter den angloamerikanischen Terrorbombardements auch die deutschen Städte der Reihe nach in Ruinen, mit Hunderttausenden von Toten, doch niemand vom Personal wollte der Wahrheit ins Auge blicken, nicht einmal nach der Invasion im Juni '44: Solange der Führer felsenfest an den Endsieg glaubte, brauchte man sich um die eigene ehrenvolle Stellung am Hof keine Gedanken zu machen. Die Geheimwaffe, die, wie Goebbels verlauten ließ, gerade entwickelt wurde, würde sehr bald das Kriegsglück wenden. In Wirklichkeit wurde diese Waffe damals in Amerika geschmiedet, wie das Wagnerische Schwert Nothung, wobei aus Deutschland vertriebene jüdische Gelehrte federführend waren. Währenddessen, erfuhr Herter, begann das Regime unter Leitung von Bormann, sich unter die Erde zu verkriechen. Seit einem Jahr waren Hunderte von ausländischen Zwangsarbeitern Tag und Nacht damit beschäftigt, unter dem ganzen Areal ein kilometerlanges Labyrinth aus Gängen und Bunkern anzulegen, das alle Gebäude miteinander verband und mit allem Notwendigen ausgestattet war, von edelholzgetäfelten Räumlichkeiten für den Chef und die Chefin bis hin zu einem Zwinger für Blondi, Küchen, Vorratsräumen, Kinderzimmern, Büros, Archiven, einem Hauptquartier, Telexräumen, einer Gestapo-Zentrale und Maschinengewehrnestern an strategisch wichtigen Punkten des Komplexes; oberirdisch krönten Geschütztürme mit Schnellfeuerkanonen das Ganze. Auch Fräulein Braun schloß die Augen vor der Wirklichkeit des Kriegs, die auf dem Obersalzberg nur in gedämpften unterirdischen Detonationen spürbar war. Vereinzelt gab es Fliegeralarm, was offensichtlich dem Chef sofort gemeldet wurde, denn garantiert rief er ein paar Minuten später an und legte Fräulein Braun dringend ans Herz, in den Luftschutzkeller zu gehen. Sie war traurig, wenn ihr Adi auswärts weilte, aber jetzt hatte sie ihren Sohn, und das Porträt ihres Geliebten brauchte Julia nicht mehr neben ihren Teller zu stellen. Und doch konnte es auch ihr nicht entgehen, daß die beklemmende Atmosphäre auf der Stelle aus dem Berghof wich, wenn die Kolonne aus schwarzen Mercedes-Wagen, begleitet von einer Motorradeskorte, um die Ecke verschwand – und alles und jeden mitnahm, Bormann, Morell, Brückners Nachfolger Schaub, Heinz Linge, die Sekretärinnen, die Köchin, Blondi und zwanzig große Koffer mit dem Gepäck des Chefs: Man zündete sich Zigaretten an, und plötzlich war hin und wieder Lachen zu hören, auch aus den Quartieren der SS-Mannschaften; von irgendwoher erklang sogar schon eine amerikanische Jazzplatte aus einem
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