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Siegfried

Siegfried

Titel: Siegfried Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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Gänseschmalz und Meerrettich bestrichene und ausgiebig mit Salz bestreute Scheibe biß, überkam ihn wieder jenes Gefühl von Ursprung, das er nur in Österreich verspürte. Es schmeckte ihm besser als ein sündhaft teures Mittagessen in einem Drei-Sterne-Restaurant in Riquewihr. »Und dann?« fragte er: die zentrale Frage allen Erzählens.
    Dann begann die glücklichste Zeit ihres Lebens. Natürlich wurden sie schärfer beobachtet als früher, und Familienbesuche in Wien waren ausgeschlossen. Alle halbe Jahre durften die betrogenen Großeltern für einen Nachmittag auf den Berghof kommen, und jedesmal war Julias Vater enttäuscht, daß er seinen Führer nicht zu sehen bekam. Eigentlich lief es darauf hinaus, daß sie Gefangene waren, doch ihr Siggi, der nicht ihr Siggi war, machte das alles wieder gut. Während der ersten drei Jahre, in denen er zehn Länder eroberte, war der Chef häufiger auf dem Berghof als in Berlin. Dort empfing er Könige und Präsidenten, denen er drohte und die er beschimpfte, daß man es bis in die Küche hören konnte; anschließend bat der plötzlich höchst liebenswürdige Führer zu Tisch, und dann gingen die Gäste, immer noch zitternd vor Angst, an der SS-Ehrengarde mit präsentiertem Gewehr vorüber zu ihrem Wagen, in dem Wissen, daß ihr Land verloren war. Zu Fräulein Brauns Verdruß interessierte sich ihr Verlobter anfänglich nicht besonders für seinen Sohn. Er war zwar der mächtige Führer, der die Weltherrschaft erobern wollte, doch das Vatersein war ihm offensichtlich nicht in die Wiege gelegt worden: dafür war er selber viel zu sehr ein Muttersöhnchen. Außerdem war ihm das Kind vermutlich noch zu klein und zu austauschbar mit anderen Babys und Kleinkindern.
    Falk gegenüber erwähnte er einmal, daß aus dem Jungen vermutlich nichts Rechtes werden würde, denn große Männer bekämen immer unbedeutende Söhne: Das sähe man an August, Goethes Sohn. Doch seine Unbedeutendheit gehe in diesem Fall auf Falks Konto. Daß es Siegfried überhaupt gebe, habe er den Bitten von Fräulein Braun zu verdanken, die er wegen seiner vielfältigen Aufgaben im Dienste des deutschen Volks viel zu häufig allein lassen müsse. Er verbot Falk, Fräulein Braun von seinen Bemerkungen zu berichten, doch Julia war ebenso entsetzt darüber, wie Fräulein Braun es gewesen wäre. Im Laufe der Jahre hatte sie übrigens immer stärker das Gefühl, das Kind sei tatsächlich ihr Kind, denn so behan delten es alle, in der Öffentlichkeit auch die sieben Eingeweihten. Als Siegfried zu Frau Podlech in den Kindergarten durfte, den Bormann auf dem Berghof für seine eigenen Kinder, für die Speers und für andere Kinder aus der Führungselite, wie zum Beispiel Görings Töchterchen, eingerichtet hatte, war sie bestimmt stolzer als die wirkliche Mutter. Gesprochen wurde darüber nicht, doch vielleicht kämpfte Fräulein Braun mit demselben Gefühl von Eifersucht. Wenn Siggi Schmerzen oder Kummer hatte, weinte er sich nicht bei ihr, sondern bei Julia aus; wenn er einen Alptraum hatte, kroch er zu Julia ins Bett und nicht zu seiner Mutter.
    Ach, diese herrlichen, blendend weißen Tage im Winter 1941/42, der meterhohe Schnee, vor den Fenstern die durchsichtigen Reißzähne der Eiszapfen, und die gemütlichen Silvesterabende mit Bleigießen, an denen Dr. Goebbels auch einmal teilnahm. Gab es diese Tradition in den Niederlanden auch?
    »In den Niederlanden nicht«, sagte Herter, »doch bei uns zu Hause schon.«
    Auf dem Speicher wurde nach einem Stück Bleirohr gesucht, das dann in einem alten Kochtopf auf dem Herd erhitzt wurde. Immer noch sah er die graue Haut auf dem geschmolzenen Blei und wie sein Vater ihm den Zinnlöffel reichte, mit dem er etwas von der Flüssigkeit nehmen und in eine Schüssel mit Wasser gießen sollte. Das Gebilde, das dann unter lautem Zischen entstand, wurde herausgefischt, und jeder durfte es interpretieren, denn es sagte die Zukunft vorher.
    Falk wandte sich halb um und kramte kurz in einer Schublade. Er nahm einen länglichen, glän zenden Gegenstand heraus, nicht größer als ein kleiner Finger, und gab ihn Herter. »Das hier stammt von Hitler. Ich habe es aufgehoben. Was sagen Sie dazu? Ich erinnere mich noch daran, daß er nicht sehr glücklich darüber war.«
    Fasziniert betrachtete Herter das bizarre Gebilde. Natürlich wußte er, daß es nach den Gesetzen des Zufalls entstanden war – das heißt, abhängig von der Höhe, in der sich der Löffel über dem Wasser befand, und

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