Sieh dich nicht um
Minneapolis ziehen. Kate ist seine Cousine und hat ihn heute abend zur Vorstellung mitgebracht. Er sagt, seit er aus New York weg ist, fehlt ihm am meisten, daß er nicht mehr regelmäßig ins Theater gehen kann. Ich habe mich lange mit ihm unterhalten. Er bleibt noch ein paar Tage in der Stadt. Ich habe gehofft, daß er sich mit mir verabreden will – aber Pech gehabt.
Ein Eintrag vier Monate später lautete:
Tom Lynch war übers Wochenende in der Stadt. Ein paar von uns waren zum Skilaufen in Stowe. Er fährt sehr gut. Und er ist nett. So einen Typen würde Papa sich als Schwiegersohn wünschen. Doch er würdigt mich und die anderen Mädchen keines Blickes. Außerdem ist es jetzt sowieso zu spät.
Drei Wochen danach war Heather bei dem Unfall ums Leben gekommen – wenn es überhaupt ein Unfall gewesen war.
Während Lacey die Passagen abschrieb, fragte sie sich, ob Isabelle oder die Polizei je mit Lynch über Heather gesprochen hatten. Und was hatte Heather mit dem Satz »Außerdem ist es jetzt sowieso zu spät« gemeint?
Bedeutete das, daß Lynch eine feste Freundin hatte? Oder daß
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Heather inzwischen mit jemandem liiert war?
Diese Gedanken schossen Lacey durch den Kopf, als Lynch ihr gegenüber Platz nahm.
»Alice Carroll, richtig?« sagte er, eher bestätigend als fragend.
»Ja, und Sie sind Tom Lynch.«
»Behaupten wenigstens die anderen. Ich habe gehört, daß Sie erst seit kurzem in Minneapolis wohnen.«
»Richtig.« Lacey hoffte, daß ihr Lächeln nicht allzu gezwungen aussah.
Bestimmt wird er etwas über mich wissen wollen, dachte sie nervös. Vielleicht wird das mein erster richtiger Test. Sie nahm ihren Löffel und rührte in ihrem Kaffee herum. Aber dann fiel ihr ein, daß das bei schwarzem Kaffee ohne Zucker ziemlich merkwürdig wirkte.
Svenson hatte ihr beigebracht, Fragen mit Gegenfragen zu beantworten. »Sind Sie in Minneapolis geboren, Tom?«
Sie wußte, daß das nicht so war, doch diese Eröffnung erschien ihr unverfänglich.
»Nein, in Fargo, North Dakota. Nicht weit von hier. Kennen Sie den Film Fargo?«
»Er hat mir sehr gut gefallen«, erwiderte sie lächelnd.
»Und Sie sind trotzdem hierhergezogen? In dieser Gegend war der Film praktisch verboten. Die Leute glaubten, er stellt uns wie eine Horde Hinterwäldler dar.«
Lacey fand, daß sie unglaubwürdig klang, als sie ihre Geschichte erzählte: »Meine Mutter und ich haben hier Freunde besucht, als ich sechzehn war. Ich war begeistert von dieser Stadt.«
»Wahrscheinlich hatten wir damals besseres Wetter.«
»Richtig. Es war im August.«
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»Wenn es überall von schwarzen Fliegen wimmelt.«
Sie wußte, daß er sie nur auf den Arm nehmen wollte. Doch wenn man lügt, kommt einem alles verdächtig vor. Dann fragte er sie, wo sie arbeitete.
»Ich mußte mich erst einleben«, sagte sie. Wenigstens das war die Wahrheit. »Jetzt ist es an der Zeit, daß ich mir einen Job suche.«
»Was für einen?«
»Ich habe in der Buchhaltung einer Arztpraxis gearbeitet«, erklärte sie und fügte hastig hinzu: »Aber ich würde gern etwas anderes tun.«
»Das glaube ich Ihnen gern. Mein Bruder ist Arzt, und er braucht drei Sekretärinnen, damit ihm die Formulare von den Versicherungen nicht über den Kopf wachsen. Bei was für einem Arzt waren Sie denn?«
»Bei einem Kinderarzt.« Zum Glück hat Mom so oft über ihren Beruf geredet, daß ich mich heute einigermaßen auskenne, dachte Lacey. Aber warum habe ich bloß »Buchhaltung«
gesagt? Ich kann kein Versicherungsformular vom anderen unterscheiden.
Um das Thema zu wechseln, sagte sie: »Ich habe mir heute Ihre Sendung angehört. Das Interview mit dem Regisseur, der Chicago neu inszeniert hat, fand ich besonders gut. Ich habe das Stück in New York gesehen, bevor ich hie rhergezogen bin.«
»Meine Cousine Kate ist im Chor der Tourneetruppe von The King and I. Zur Zeit gastieren sie hier«, sagte Lynch.
Lacey erkannte an seinem Blick, daß er überlegte. Er fragt sich, ob er mich einladen soll mitzukommen. Hoffentlich! Seine Cousine Kate war eine Kollegin von Heather gewesen und hatte die beiden miteinander bekannt gemacht.
»Morgen abend ist Premiere«, fuhr er fort. »Ich habe zwei Karten. Haben Sie Lust?«
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19
In den drei Monaten nach Isabelles Tod hatte sich Jimmy Landi gefühlt wie ein Schlafwandler. Es war, als stünde der Teil seines Gehirns, der für die Gefühle zuständig war, unter Narkose. All seine Kraft und seine Gedanken galten dem neuen
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