Sieh dich nicht um
»Jedesmal woanders«, sagte sie, als George Svenson auf ihr Klopfen hin die Tür öffnete.
»Richtig«, stimmte er zu. »Die Leitung ist bereit. Ich verbinde Sie. Und vergessen Sie nicht, was ich Ihnen gesagt habe, Alice.«
Er nannte sie immer Alice.
»Ich weiß noch jedes Wort.« Im Singsangton leierte sie die Liste herunter: »Selbst der Name eines Supermarktes könnte meinen Aufenthaltsort verraten. Wenn ich vom Fitneßstudio erzähle, darf ich nicht sagen, daß es Twin Cities Gym heißt. Das Wetter ist auch tabu. Da ich keinen Job habe, kann ich bei dem Thema nichts falsch machen. Also rede ich hauptsächlich darüber.«
Sie biß sich auf die Unterlippe. »Tut mir leid, George«, sagte sie zerknirscht. »Diese Anrufe zerren einfach an meinen Nerven.«
Sie bemerkte einen mitleidigen und verständnisvollen Ausdruck in seinem zerfurchten Gesicht.
»Ich stelle die Verbindung her und mache dann einen Spaziergang«, sagte er. »In einer halben Stunde bin ich zurück.«
»In Ordnung.«
Er nickte und griff zum Hörer. Lacey spürte, daß ihre Handflächen feucht wurden. Kurz darauf, hörte sie, wie die Tür ins Schloß fiel. »Hallo, Mom, wie geht's euch?« sagte sie.
Heute war es noch schwerer als sonst. Kit und Jay waren nicht zu Hause. »Sie mußten zu einem Cocktailempfang«, erklärte ihre Mutter. »Kit läßt dir liebe Grüße ausrichten. Den Jungs geht
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es gut. Sie sind jetzt beide in der Eishockeymannschaft ihrer Schule. Du solltest sehen, wie sie auf ihren Schlittschuhen herumsausen, Lacey. Ich sterbe fast vor Angst, wenn ich ihnen zuschaue.«
Das habe ich ihnen beigebracht, dachte Lacey. Ich habe ihnen Schlittschuhe ge schenkt, als sie noch kaum laufen konnten.
»Aber Bonnie macht uns Sorgen«, sprach ihre Mutter weiter.
»Sie ist immer noch so blaß. Kit geht mit ihr dreimal in der Woche zur Krankengymnastik, und ich mache am Wochenende Übungen mit ihr. Doch sie vermißt dich so sehr. Sie ahnt, daß du dich versteckst, weil dich jemand umbringen will.«
Wie kommt sie bloß auf diese Idee? wunderte sich Lacey.
Mein Gott, wer hat ihr diesen Floh ins Ohr gesetzt?
Ihre Mutter beantwortete die Frage, ohne daß Lacey sie hätte stellen müssen. »Ich glaube, sie hat etwas aufgeschnappt, als Jay und Kit sich unterhalten haben. Ich weiß, daß er dir manchmal auf die Nerven geht, aber sei nicht ungerecht, Lacey. Er hat sich großartig verhalten und zahlt deine Nebenkosten und deine Versicherung. Außerdem habe ich von Alex erfahren, daß Jay einen großen Auftrag bekommen hat. Er soll die Küche des Casino-Hotels beliefern, das Jimmy Landi in Atlantic City eröffnet. Offenbar hatte er Angst, Landi könnte die Bestellung stornieren, wenn er erfährt, daß er mit dir verwandt ist. Alex erzählt, daß Jimmy nach der Ermordung seiner Exfrau am Boden zerstört war. Jay hat befürchtet, daß er dir die Schuld an ihrem Tod gibt. Du weißt schon, weil du den Mann in die Wohnung gebracht hast, ohne zuerst Erkundigungen über ihn einzuholen.«
Eigentlich schade, daß ich nicht zusammen mit Isabelle ermordet worden bin, dachte Lacey verbittert.
Aber sie versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Sie erzählte, daß sie nun regelmäßig im Fitneßstudio trainierte und großen Spaß daran hatte. »Mir geht es wirklich gut«, beteuerte
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sie. »Und zu lange kann es ja nicht mehr dauern. Ehrenwort. Die Polizei sagt, daß sie den Mann, den ich identifizieren kann, überzeugen wird, nach seiner Verhaftung als Kronzeuge auszusagen. Dann müßte er nicht ins Gefängnis. Sobald diese Abmachung steht, habe ich nichts mehr zu befürchten. Denn seine Auftraggeber werden hinter ihm her sein, nicht hinter mir.
Wir müssen nur beten, daß es bald soweit ist. Richtig, Mom?«
Doch zu ihrem Entsetzen hörte Lacey ihre Mutter laut schluchzen. »Lacey, ich kann nicht mehr so weiterleben«, jammerte Mona Farrell. »Immer wenn ich höre, daß eine junge Frau irgendwo einen Unfall gehabt hat, glaube ich, daß du es bist. Du mußt mir verraten, wo du bist. Du mußt einfach.«
»Mom!«
»Bitte, Lacey!«
»Wenn ich es dir sage, muß es absolut unter uns bleiben. Du darfst es nicht einmal Kit erzählen.«
»Ja, Kind.«
»Mom, wenn die Polizei erfährt, daß ich es dir verraten habe, werde ich nicht mehr geschützt; dann werde ich aus dem Programm geworfen.«
»Ich muß es wissen.«
Als Lacey aus dem Fenster blickte, sah sie George Svensons bullige Gestalt näher kommen. »Mom«, flüsterte sie. »Ich bin in
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