Sieh dich um: Thriller (German Edition)
hatte nackt, zerschmettert und gefesselt auf dem Boden gelegen. Dutzende, Hunderte von wimmelnden weißen Maden hatten sich durch ihr Fleisch gefressen. Um ihren Kopf surrten fette schwarze Fliegen. Die einst wunderschönen blauen Augen seiner Mutter waren nicht mehr da gewesen, und durch den alles überlagernden Verwesungsgestank hätte er sich beinah an Ort und Stelle übergeben.
In diesem Moment zerbrach etwas in Jacks Geist, und er wusste, dass er nie wieder derselbe sein würde.
Obwohl das Gesicht vollkommen zerschmettert und nicht mehr zu erkennen war, hatte er gewusst, dass es sich um sie handelte, um seine Mutter. Und so sehr er sich dabei ekelte, er überwand sich dazu, sich vorzubeugen, seine Fingerspitzen zu küssen und sie sanft auf ihre zermalmte Wange zu drücken, bevor er das Wohngebäude verließ. Das Geschenk, das er ihr mitgebracht hatte, ließ er zurück. Es war das Letzte, was Stephanie Mann je von ihm besitzen würde, und Jack wollte, dass sie es auf ihre Reise in die Ewigkeit mitnahm, wohin sie auch führen mochte.
Bis er eine Telefonzelle gefunden und die Polizei am Apparat hatte, war sein Körper von Kopf bis Fuß taub geworden. Er hatte sich der Frau am anderen Ende der Leitung nicht zu erkennen gegeben, auch nicht, als das Miststück hartnäckig darauf bestanden hatte.
Dafür hatte Jack einen einfachen Grund gehabt: Er wollte nicht in die Sache hineingezogen werden, zumindest nicht offiziell. Diesen Teil würde er den Profis überlassen, die den Fall bearbeiteten – obwohl sie sich dabei bisher nicht mit Ruhm zu bekleckern schienen. Jedenfalls bedeutete das Schachbuch, das er auf dem Wohnzimmertisch neben dem ermordeten Leichnam seiner Mutter gesehen hatte, dass Stephanie Mann schon bald berühmt sein würde. Dafür würde der Ruf des berüchtigten Serienmörders sorgen, der das Leben von Jacks Mutter ausgelöscht hatte. Und damit hatte er nicht das Geringste zu tun haben wollen.
Mittlerweile empfand er nicht mehr so.
Er wandte sich wieder seinem Computer zu und tippte auf ein paar Tasten, während Molly zufrieden vor sich hin schnarchte. Jacks kleine Schwester befand sich in ihrer eigenen Traumwelt, einer Welt, in der Hündchen und Schmetterlinge über grüne Wiesen tollten, die sich erstreckten, so weit das Auge reichte. Einer Welt, in der ihre Mutter noch lebte. Jack hingegen war in der Wirklichkeit angekommen, und er wusste, dass er nie wieder in die andere Welt zurückkehren würde. Das konnte er nicht. Aber Molly sollte sich an ihrer Unwissenheit erfreuen, so lange es ging. Sie würde früh genug erwachsen werden müssen.
Er navigierte im Webbrowser seines Computers zur Eingabemaske von Google. Dann tippte er »Schachbrett-Mörder« in das Suchfeld und klickte auf »Neueste Ergebnisse«, bevor er sich auf seinem Stuhl zurücklehnte. Wie er vermutet hatte, waren die Neuigkeiten über den grausigen Tod seiner Mutter bereits im Internet angekommen. In diesem Zeitalter der ununterbrochenen Berieselung mit Nachrichten, vierundzwanzig Stunden am Tag, sieben Tage die Woche, kreisten die Geier nicht lange über ihrer Beute. Stattdessen hatten sie sich auf das verrottende Fleisch seiner Mutter gestürzt, sobald sie es gerochen hatten. Diese gottverdammten Aasfresser.
Er las:
SCHACHBRETT-MÖRDER SCHLÄGT ERNEUT ZU
Von Nick Brandt
New York Post
Eine Quelle im NYPD hat heute bestätigt, dass der Schachbrett-Mörder sein nächstes Opfer gefunden hat – diesmal eine Frau, die auf der West Side in einem Abrissgebäude gewohnt hat.
Die polizeiliche Quelle teilte mit, dass Stephanie Mann, 30 Jahre alt, schwere Verletzungen erlitten hat, gab jedoch keine Auskunft über die Art der Verletzungen.
Nach Informationen der Quelle wurde am Tatort ein weiteres Schachbuch gefunden, eine Biografie eines der besten Spieler in der Geschichte des Spiels, doch die Quelle weigerte sich, den Titel des Buches zu nennen. Der Schachbrett-Mörder hinterlässt regelmäßig Schachbücher an den Tatorten seiner nach berühmten Schachpartien der Vergangenheit modellierten Morde. Sie sind quasi seine Visitenkarte, mit der er uns mitteilt, wer hinter den blutigen Verbrechen steckt.
Die FBI-Ermittler Dana Whitestone und Jeremy Brown, die den Fall seit nunmehr fünf Monaten untersuchen, weigerten sich, Fragen der Presse zu dem Thema zu beantworten. Stattdessen verließen die Bundesbeamten den Tatort ohne jeden Kommentar gegenüber den versammelten Medien.
Die Berichterstattung geht weiter. Besuchen Sie für
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