Sieh mir beim Sterben zu (German Edition)
nie gesehen», verkündete Doktor Chelsea Thomas gerade. Es klang ein klein wenig undeutlich, weil sie, wie angekündigt, bereits das zweite Bier vor sich hatte und das anscheinend nicht gewöhnt war. «Dabei stellen die Leute doch ständig Belege für ihr Fehlverhalten ins Netz.»
«So wie diese Highschool-Schülerinnen, die ihre Klassenkameradin vermöbelt haben.»
«Genau. Aber abgesehen von vereinzelten Snuff-Filmchen, die auf irgendwelchen Szene-Seiten auftauchen, hatten wir es bisher noch nie mit Filmen von echten Morden zu tun, vor allem nicht auf Seiten wie YouTube, und das macht mir richtig Angst. Wer immer diese Filme ins Netz stellt, tut das, um damit anzugeben.»
Magozzi sah sie entgeistert an. «Angeben? Vor wem denn?»
«Vor der ganzen Welt. Es ist doch so: Das FBI konnte fünf reale Morde mit anschließenden Video-Postings belegen … sechs, wenn man Ihre Braut aus dem Fluss mitzählt … und alle in den letzten vier Monaten. Das ist doch beängstigend.»
Das war es in der Tat. Doch Magozzi hatte den Großteil eines Biers intus, er saß an einem warmen Ort, ihm gegenüber befand sich eine hübsche Frau, und er fing an, sich ein bisschen wohlzufühlen. Er winkte die Kellnerin heran und bestellte zwei Hamburger und zwei Portionen Zwiebelringe. Es war Kneipenessen – mit anderen Worten: ungesundes Essen –, und während er darauf wartete, lief ihm das Wasser im Mund zusammen wie dem Pawlow’schen Hund. Er versuchte, sich zu erinnern, wann er das letzte Mal auf dem Nachhauseweg ein paar Bier getrunken und sich ein fettiges Essen gegönnt hatte, kam aber nicht darauf. «Sie denken ganz ähnlich wie mein Partner.»
«Ist das gut oder schlecht?»
«Schlecht. Sie haben nämlich gerade seine Theorie bestätigt, dass sich da ein reisender Serienmörder eines weltweiten Publikums bedient.»
Doktor Chelsea Thomas streifte ihre blaue Kostümjacke ab und enthüllte eine weiße Bluse mit kleinen Rüschen am Kragen, die Magozzi nicht im Geringsten interessierte, weil Grace nicht darin steckte. «Wollen wir’s hoffen.»
«Wie bitte?»
«Betrachten Sie es doch mal so. Nehmen wir den durchschnittlichen Serien- oder Lustmörder. Dieser ganze Scheiß …» Unvermittelt brach sie ab und blinzelte ein paarmal. «Ach herrje. Entschuldigen Sie bitte die Ausdrucksweise.» Sie schob das Bierglas von sich. «Also, diese ganzen schlauen Lehrsätze, dass solche Täter nur darauf warten, geschnappt zu werden, dass sie sogar geschnappt werden wollen , führen einen leicht zu der Annahme, dass diese Leute ihre Taten bereuen und dafür büßen wollen. Das ist aber alles Unsinn. Die wollen einfach nur berühmt werden. Mein Gott, einige dieser Kerle wiederholen sich doch so oft, dass man meinen könnte, sie wollten ins Guinness-Buch der Rekorde für die meisten oder von mir aus auch für die scheußlichsten Morde. Das Blöde an so einer Karriere ist nur, dass man nicht offen zeigen kann, wie gut man ist.»
«Dann ist dieser Mörder also auf der Suche nach Aufmerksamkeit.»
«Nein, nicht nach Aufmerksamkeit. Nach Ruhm. Das ist ein gewaltiger Unterschied. Aufmerksamkeit bringt auch Nachforschungen mit sich, und wie gesagt, gefasst werden wollen diese kranken Typen keineswegs. Bei dem ganzen Prozess, von der Planung des Verbrechens bis hin zu der Angst, die sie in der Öffentlichkeit auslösen, und der Frustration, die sie der Polizei bescheren, geht es immer nur um Macht. Aber unsere Gesellschaft ist inzwischen ganz und gar visuell geworden. Schlagzeilen haben kaum noch Wirkung, weil sowieso kein Mensch mehr Zeitung liest, und die Polizei sorgt dafür, dass die misshandelten Opfer nicht in den Nachrichten gezeigt werden. Da springt das Internet in die Bresche: ‹Seht her, was ich getan habe! Seht her, wozu ich fähig bin!›»
Magozzi spürte, wie ihm die Gesichtszüge entgleisten, was Chelsea Thomas aus unerfindlichen Gründen erneut zum Lächeln brachte.
«Wenn ein Serienmörder seine Werke also im Internet präsentiert, wird das Machtgefühl umso intensiver. Der Film ist die neue Trophäe. Er braucht keine Körperteile mehr abzuschneiden, keine blutverschmierten Höschen mehr mitzunehmen und bei sich zu Hause zu lagern. Und er braucht auch nicht mehr zu übertreiben, was bisher immer unsere Chance war, ihn doch noch zu schnappen. Er präsentiert der ganzen Welt den optischen Beweis für seine Taten, wie ein Filmmogul aus Hollywood bei der großen Premiere des neuesten Blockbusters, und wir werden ihn und
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