Siesta italiana: Meine neue italienische Familie
stehen. Andere Fremdsprachenlexika kann man auch nicht konsultieren, weil die Italiener die ihrem Dialekt einverleibten Fremdwörter unter anderem durch eine andere Betonung deformiert haben.
Das beste, wenn auch nicht unbedingt einfachste Beispiel dafür ist eine Frage, die mir in meinem ersten Sommer in Andrano oft gestellt wurde und die ich im zweiten Jahr endlich verstand: Sciamu mare crai? Sollen wir morgen an den Strand gehen? Auf Italienisch lautet dieselbe Frage: Andiamo al mare domani? Aber im Dialekt von Andrano wird aus andiamo (gehen wir) sciamu . Mare (Meer oder Strand) ist gleich geblieben und domani (morgen) wurde durch crai ersetzt, was vom lateinischen cras abstammt.
Das ist genauso schwer zu erklären, wie es zu verstehen ist. Und ehrlich gesagt, gab ich es auch bald auf, mich zu bemühen, als ich begriff, dass sich der Nutzen solcher Wörter auf den Umkreis von ein paar Dutzend Kilometern und ein paar Tausend Menschen beschränkt. Außerdem gefiel mir der Klang nicht. Die ständigen Us in Wörtern wie sciamu ließen die Sprache primitiv klingen, so als diskutiere eine Horde Affen, ob sie morgen an den Strand gehen soll.
Einen Dialekt paukt man nicht bewusst, sondern lernt ihn nebenbei. Das Vorhandensein des ein oder anderen italienischen Worts stellte sicher, dass ich zumindest ungefähr mitbekam, um was es ging, wenn die Leute ihr provinzlerisches Patois sprachen. Aber nur den Dialekt von Andrano konnte ich einigermaßen verstehen. Der anderer Orte und Dörfer war in meinen Ohren ein einziges Kauderwelsch. Deshalb muss man Italienisch können, wenn man sich mit Menschen aus anderen Regionen verständigen will. So gesehen ist für einen Mann wie den compare , der nur Dialekt spricht, jede Reise über die Stadtgrenzen hinaus wie eine Überseereise.
Laut den New Italians konnte sich noch 1990 einer von sieben Italienern nur in seinem Dorfdialekt unterhalten. Diese Anzahl wäre sogar noch höher, wenn Mussolini die Standardisierung der Sprache nicht so vorangetrieben hätte – wenn auch nur unità nazionale zuliebe beziehungsweise zu dem Zweck, dass die Soldaten seine Befehle verstehen konnten. Interessanterweise stellten sich die Dialekte der Soldaten als wirksame Waffe gegen Il Duce heraus, denn wenn sie von der Front Briefe nach Hause schrieben und sich über Faschismus und Krieg beschwerten, konnten die Zensoren ihre verschlüsselte Korrespondenz nicht verstehen.
Dank einer besseren Bildungspolitik und dank der Nachkriegsmigration können heute die meisten Italiener Hochitalienisch. Puristen bezeichnen einen Mann wie den compare als ungebildet, da er nur Dialekt spricht. Andere sagen, er sei sehr wohl gebildet, weil sein Dialekt, auch wenn er nur von einer sehr begrenzten Anzahl von Menschen gesprochen wird, eine Grammatik besitzt. Wie dem auch sei – jemand, der nur Dialekt spricht, gilt heutzutage als ignorant, da er nicht in der Lage ist, sich mit dem Rest der Nation zu unterhalten, und außerhalb seines Dorfes nicht kommunizieren kann. Aber wenn sich die gesamte Außenwelt ohnehin auf die Bar an der Piazza konzentriert, ist das auch kein Problem.
Bis auf extreme Fälle benutzt die jüngere Generation den Dialekt eher spielerisch. Zwei Bewohner eines Dorfes, die beide fließend Italienisch sprechen, verfallen mitten im Gespräch in den Dialekt, um ihm einen bestimmten Charakter zu verleihen. Daniela sagt, das sei so, wie selbstgezogene Kräuter an fertig gekaufte Pasta zu geben. Der Dialekt ist mehr eine Art Passwort als eine Sprache, ein Schlüssel zu den Herzen und Köpfen eines Dorfes. Ein Wort davon genügt, um Intimität und Identität herzustellen. Der Dialekt ist so etwas wie ein Insider-Witz: amüsant für diejenigen, die ihn begreifen, und bedeutungslos für jene, an denen er vorbeigeht. Daniela und ihre Mutter unterhalten sich auf Italienisch, nur um plötzlich im Dialekt weiterzureden. Nicht weil ich sie nicht verstehen soll – zumindest hoffe ich das -, sondern weil bestimmte Typen in Andrano an Persönlichkeit verlieren, wenn man auf Italienisch über sie spricht. So auch der compare , den man ruft, um » na bici « zu reparieren statt »la bicicletta «.
Jetzt, wo immer weniger Menschen Dialekt sprechen, befürchten viele, dass ihre einzigartige Sprache ausstirbt, und denken sich Methoden aus, um ihr Leben zu verlängern. Wie der Bürgermeister von Mayo, ein kleiner Ort in der Region Veneto, der seinen Einwohnern verbot, drei Tage etwas anderes als Dialekt zu sprechen.
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