Siesta italiana: Meine neue italienische Familie
silbergrauem Haar, hatte sich nach seiner Pensionierung das Reparieren von Fahrrädern zum Hobby gemacht, obwohl ich nicht glaube, dass er von Aufträgen überschwemmt wurde. Kaum hatte Daniela aufgelegt, fuhr sein Citroën vor unserem Tor vor, das typische Kakerlakenmodell. Da hinein zwängte er mit Gewalt unsere Räder, während die Pedale aus dem Fenster ragten und die Lenker das Handschuhfach blockierten.
Für jemanden, der fast zur Familie gehört, benahm sich der compare bemerkenswert distanziert. Er tauschte ein paar Höflichkeiten aus, wollte nicht wissen, wer ich war, und seine in Falten gezogene Stirn legte nahe, dass das sein ständiger Gesichtsausdruck war. So sahen viele ältere Leute in Andrano aus, deren Leben sich ausschließlich um so einfache Freuden wie Familie, das Essen und die Religion drehte. Das Leben war für diese Leute eine einzige Prüfung, eine Pflicht, die man erfüllen muss. Sie waren nicht unbeschwert aufgewachsen und sorglos auf Vespas herumgesaust. Sie hatten keine SMS-Nachrichten verschickt oder die bestaussehenden Mädchen oder Jungen verführt. Ihr Lebensinhalt bestand einzig und allein darin, gesund zu bleiben und genügend zu essen zu haben, und jedes Mal, wenn die Sonne auf- und unterging, dankten sie dem lieben Herrgott für beides. Alles an ihnen zeugte von harter Arbeit unter der sengenden Sonne – von der ledrigen Haut ihrer Hände bis hin zu ihren ausgeblichenen Brauen.
Der compare , der die meiste Zeit seines Lebens als Bauer gearbeitet hatte, war verheiratet, hatte seinen Darmkrebs überlebt, aber den eigenen Sohn an die Straßen Italiens verloren. Die Bar an der Piazza war seine Welt, wo er mehr grappe trank, als sein Arzt ihm empfahl, und Karten spielte, bis die Bilder darauf verblassten. Er rauchte, fischte, furzte und begrub seine Freunde, bis sie ihn eines Tages begraben würden. Das war’s auch schon, außer dass er vielleicht noch zweimal die Woche Superenalotto spielte, in der Hoffnung, den Jackpot zu knacken. Ich hätte zu gern gesehen, was er mit mehreren Millionen Euro angefangen hätte. Vielleicht hätte er mehr Geld beim Kartenspielen verwettet.
Daniela wusste auch nicht, warum sie ihn compare nannte. Sie war damit aufgewachsen und hatte das nie hinterfragt, etwas, das nur ich merkwürdig fand. In diesen abgelegenen Orten ist irgendwie jeder mit jedem verwandt. Egal, wie lange ich in Andrano bleiben würde – ich würde niemals irgendwelche Gemeinsamkeiten mit einem Mann wie dem compare entdecken können. Er war nicht so lebhaft wie der andere compare , Signor Api, und hatte weder das Temperament noch die Absicht, sich mit mir zu unterhalten. Wir stammten aus verschiedenen Welten. Er hatte keine Ahnung, wo Australien lag, noch zeigte er Interesse daran, es zu erfahren. Wir würden auch nie eine gemeinsame Sprache sprechen, denn ehrlich gesagt war ich der Einzige von uns beiden, der Italienisch konnte.
Der compare unterhielt sich in einem bizarren Dialekt mit Daniela, der unzusammenhängend und abrupt klang. Ich erkannte zwar einzelne Wörter wieder, aber die Gesamtbedeutung begriff ich nicht. Es war der Dialekt von Andrano, ein nicht sehr elegant klingender Slang. Etwas, das im Sieb hängen bleibt, wenn man das Hochitalienisch herausgefiltert hat. Andranos Jargon besitzt viel mehr gutturale Laute als das Hochitalienische und ist deutlich schwerer zu lernen. Trotzdem ist er die einzige Möglichkeit, sich mit Männern wie dem compare zu unterhalten, der fast jede Minute seines achtzigjährigen Lebens in diesem Ort verbracht hat und für den Italienisch seine erste und einzige Fremdsprache ist. Daniela nannte ihn sogar im Dialekt compare .
Italien ist auch als das Land der tausend Dialekte bekannt. Jedes Dorf auf der Halbinsel hat seine eigene Sprache, eine wilde Mischung aus heutigem Italienisch und der uralten Sprache der Begründer des Dorfes, also jener Eindringlinge und Fremdherrscher der jeweiligen Region. In der Region Lecce zum Beispiel weist der Dialekt starke griechische Einflüsse auf, in Turin gehen viele Wörter auf das Französische zurück und in Sizilien auf alle möglichen Sprachen – das linguistische Erbe arabischer Invasoren, albanischer Siedler und spanischer Konquistadoren.
Der Dialekt ist ein linguistisches Muttermal, ein Code, der die Italiener mit ihrem Heimatort und seinen Bewohnern verbindet. Für den Ausländer sind diese Codes kaum zu erlernen, da der Dialekt aus Wörtern besteht, die in keinem Italienischwörterbuch
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