Siesta italiana: Meine neue italienische Familie
erwartet.
Ich appellierte an ihr Mitgefühl, an ihren gesunden Menschenverstand. Freccia starb einen qualvollen Tod, es wäre grausam, ihn nicht zu beschleunigen. Was hatte es schon für einen Sinn, sie wieder aufzupäppeln, wenn sie in naher Zukunft wieder in so einen elenden Zustand geriet? Niemand würde Freccia adoptieren. Es gab nicht einmal genügend Plätze für die gesunden Welpen, die gratis über die Fernsehzeitschrift und über die Schwarzen Bretter in jedem Tierarztwartezimmer vermittelt wurden. Wer würde sein Herz da schon an eine drei Jahre alte Hündin voller Flöhe verschenken, deren Steißbein dermaßen hervorstach, dass sie aussah wie ein Kleiderbügel? Außerdem war sie schon einmal ausgesetzt worden. Caro veterinaio , Italien will dieses Häuflein Knochen nicht!
Daniela rief ihre Freundin Teresa an, die schon drei Streuner aufgenommen hatte, aber keinen Platz mehr für einen vierten hatte. »Egal, was du tust, aber bring sie nicht in den Zwinger«, riet sie ihr. »Da ist sie tot oder auf der Straße immer noch besser dran.« Ich hatte Fotos von den furchtbaren Zuständen in italienischen Tierheimen gesehen, wo zehn oder mehr Hunde in Betonzellen gepfercht werden. Laut Teresa dienen diese Heime nicht dazu, für die Tiere zu sorgen, sondern um sie von der Straße zu holen, wo sie eine Unfallgefahr darstellen. Es wird geschätzt, dass Straßenhunde in Italien jedes Jahr etwa 4000 Unfälle verursachen, die 20 Tote und 400 Verletzte fordern. Das ist die Rache für das Aussetzen, nehme ich an.
In der Zwischenzeit stellte ich mir selbst die nächstliegende Frage – dieselbe, die mir auch die Tierärzte, Teresa und alle anderen stellten, die ich bat, Freccia zu nehmen: Warum adoptierte ich sie nicht? Die Antwort war einfach. Ich wusste nicht, wie lang ich in Andrano bleiben würde. Ich war selbst ein Streuner und konnte ihr schlecht einen Platz anbieten, der mir gar nicht gehörte. Daniela hatte keinerlei Interesse an einem vierbeinigen Erbe, um das sie sich dann kümmern müsste. Aber wenn ich die Hündin in ihrem jetzigen Zustand zurück in den Park brachte, konnte ich sie genauso gut eigenhändig umbringen. Also blieb mir nichts anderes übrig, als sie zu säubern, sie wieder an Futter zu gewöhnen, ihr die Medizin zu geben, die der Tierarzt empfahl, und zu hoffen, dass sie sich wieder erholte. Die Hintertreppe gehörte ihr, bis sie starb oder sich berappelte. Und wenn sie es schaffte, würde sie als Straßenhund höchstwahrscheinlich irgendwann freiwillig wieder abziehen. Höchstwahrscheinlich.
Nachdem ihre Exekution gerade noch mal abgewendet worden war, schlief Freccia zwei Tage lang und wurde nur geweckt, damit wir ihr die in Parmaschinken versteckten Antibiotika verabreichen konnten. Danielas Vorschlag, sie auf diese Weise wieder für Nahrung zu interessieren, war ein durchschlagender, wenn auch teurer Erfolg. Als sich die Hündin zum ersten Mal wieder aus eigenem Antrieb regte, sah ich zum ersten Mal ihre Augen: Zwei haselnussbraune Kugeln, die mich ängstlich und absolut ergeben ansahen. Sie wehrte sich weniger als Daniela, als ich beide zum Waschbecken im Waschraum führte. Wieder trennten uns zwei Kulturen. Daniela war damit aufgewachsen, dass Hunde vor ihrer Haustür starben. Sie hatte nie ein Tier ausgesetzt, aber auch nie eines aufgenommen. Dieses Bad war sowohl für Freccia als auch für Daniela eine Premiere.
Widerwillig und mit Gummihandschuhen hielt Daniela Freccias Kopf, während ich sie von Tausenden von Flöhen und dem Dreck Salentos befreite. Ihr borstiges Fell wurde langsam weicher, aber wir mussten sie noch zwei Mal waschen, bevor die eigentliche Freccia zum Vorschein kam: ein schwarzer volpino , eine fuchsartige Promenadenmischung mit vier weißen Pfoten, einem buschigen Schwanz und einem schmalen, aufgeweckten Gesicht. Als wir sie aus dem dunkelbraunen Wasser zogen, befand sich im Becken genug Erde, um Karotten darin anzupflanzen.
Nach einer Woche war Freccia wieder fit, und nach zwei Wochen besaß sie wieder richtig Elan. Ihrem Schwanz nach zu urteilen, der gegen meine Schienbeine schlug, sobald ich nach ihr sah, hatte sie sich wieder gut erholt. Der Schwanz eines Hundes sagt immer die Wahrheit. Freccia war nicht nur nach Nahrung ausgehungert, sondern auch nach Zärtlichkeit. Sie folgte mir auf Schritt und Tritt und wechselte gern abrupt die Richtung. Doch selbst wenn ich über sie stolperte, verbuchte sie das noch als Körperkontakt. Sie machte kein Hehl daraus,
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