Siesta italiana: Meine neue italienische Familie
würde, wenn er nicht von irgendjemandem aus höheren Etagen protegiert worden wäre. »Protegés haben meinen Vater stets in den Wahnsinn getrieben«, sagte Daniela einmal, bevor sie die traurige Wahrheit, die sich in diesem Satz verbarg, bemerkte.
»Es kommt nicht darauf an, was man kennt, sondern wen man kennt«, lautet ein Sprichwort. Italiener sind nicht die Einzigen, die Freundschaften dazu nutzen, einen Fuß in die Tür zu bekommen. Was sie von anderen unterscheidet, ist, dass es ohne Vitamin B schwierig ist, sogar so banale Dinge wie eine Führerscheinprüfung zu organisieren. Ich brauchte eine »Empfehlung« von Giovanni, um endlich an meinen Führerschein zu kommen, und als nach zwei Jahren mein permesso di soggiorno erneuert werden musste, war das nach einem Anruf bei Riccardo in wenigen Tagen erledigt. Aber die Schlange stehenden Afrikaner, die bis auf ihre weitverstreuten Familienangehörigen, denen sie nur Almosen schickten, keine Kontakte hatten, mussten ein halbes Jahr auf ihre Papiere warten.
Der einzige Freund, der noch wertvoller ist als ein poliziotto , ist ein medico : jemand, der einem hilft, die Wartelisten der überfüllten Krankenhäuser zu überspringen. Wie immer lernte ich auch das auf die harte Tour, als ich mir beim Tennisspielen die Hüfte verletzte und medizinische Hilfe brauchte. Ich besiegte Renato zum ersten Mal, als nicht etwa eine Saite an meinem Schläger, sondern ein Band in meinem Körper riss. Dank meiner Aufenthaltsgenehmigung hatte ich Anspruch auf eine kostenlose ärztliche Versorgung. Ich besaß sogar ein eigenes libretto sanitario – ein sparbuchähnliches Ding, in dem meine Wehwehchen festgehalten wurden. Dieses libretto hatte ich auch an jenem schwülen Frühlingsmorgen dabei, als mich Daniela nach Soldignano fuhr. Dort humpelte ich ins Wartezimmer von Dr. Nino, dem Mann, der mich vor zwei Jahren bei einer medizinischen Untersuchung in limoncello ertränkt hatte.
Vertrocknete Topfpflanzen, eine Gewölbedecke, abblätternde Farbe und Schweißgeruch. Wie oft hatte ich schon in Wartezimmern wie diesem hier gesessen, im Wartezimmer irgendeiner Provinzbehörde, wo ich mich um meine eigenen Angelegenheiten kümmerte und angestarrt wurde wie ein Außerirdischer. Im dörflichen Süditalien, wo jeder jeden kennt, ist ein fremdes Gesicht fast schon so schockierend, dass die Einheimischen schon allein deswegen zum Arzt müssen. In diesem Fall war ärztliche Hilfe nicht weit oder wäre besser gesagt nicht weit gewesen, wenn Dr. Nino seinen Patienten Termine gegeben hätte. Stattdessen hieß es: »Wer zuerst kommt, mahlt zuerst«, wodurch wir reichlich Gelegenheit hatten, das Selbstlob zu bewundern, mit dem er seine Wände schmückte – Zeugnisse, die hoffentlich einem mehrjährigen Studium geschuldet waren und nicht nur einem Freund an der richtigen Stelle.
Etwa eine Stunde später rief eine Stimme aus dem Nebenraum: » Avanti! «, und wir waren dran. Während wir vom Wartezimmer in den genauso stickigen Behandlungsraum gingen, wich der Schweißgeruch Zigarettengestank. Hinter einem Laptop – der einzig moderne Gegenstand in dieser altmodischen Praxis – saß ein bärtiger Dr. Nino mit einer Zigarette zwischen den Fingern und einem Lächeln im Gesicht. » Canguro! «, rief er und bemerkte mein Humpeln. »Bist du von einem Auto angefahren worden?« Ein Mann, der raucht, es aber seinen Patienten verbietet, muss einen eigenartigen Humor haben.
Obwohl sein Wartezimmer aus allen Nähten platzte, plauderte Nino eine Weile ungerührt, bevor er meine Hüfte untersuchte und vermutete, ich habe eine falsche Bewegung gemacht. Nachdem er seine Schreibhand befreit hatte, indem er seine Zigarette ausdrückte, schrieb er mir eine Überweisung an einen orthopädischen Chirurgen im Falese-Krankenhaus. Daniela, die bereits geahnt hatte, dass ich so einen Spezialisten nötig haben könnte, hatte mir bereits für den folgenden Montag einen Termin besorgt. Als er das hörte, warnte uns Nino, dass die Fachärzte für Montag einen Streik angekündigt hätten und Untersuchungen, wenn überhaupt, bestimmt nur zur Hälfte durchgeführt würden.
In Italien vergeht kaum ein Tag ohne irgendeinen Streik, weil sich die Gewerkschaften nie mit der Regierung über die Tarifverträge einigen können. Während meines Aufenthalts in diesem streitsüchtigen Land, kann ich mich an Streiks von Postboten, Journalisten, Richtern, Lehrern, Ärzten, Krankenschwestern, Piloten, Fluglotsen, Boden- und Flugpersonal,
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