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Siesta italiana: Meine neue italienische Familie

Siesta italiana: Meine neue italienische Familie

Titel: Siesta italiana: Meine neue italienische Familie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chris Harrison
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während ihres Streits Gesten aus meinem Lehrbuch zum Besten, während ein junger Mann mit dem Gesicht nach unten merkwürdig verrenkt und leblos vor einem blauen BMW auf der Straße lag, so als sei er aus großer Höhe gestürzt. Sein Kopf befand sich in einer Blutlache. Daniela schwor, sie würde in Ohnmacht fallen, wenn sie das Blut aus der Nähe sah, und half, indem sie sich hinter einem Baum versteckte und den Krankenwagen rief. Ich rannte zu dem umgefahrenen Fußgänger und versuchte mich über das Geschrei hinweg verständlich zu machen. Das Opfer hatte das extreme Pech, von einem Wagen angefahren worden zu sein, dessen Fahrer hauptsächlich daran interessiert war, einen Passanten von seiner Unschuld zu überzeugen, während ihm ein stotternder Ausländer zu Hilfe eilte, der neben verschiedenen obszönen sizilianischen Gesten gerade so viel Italienisch beherrschte, dass er eine Frau fragen konnte, ob sie mit ihm ins Bett geht.
    Das Opfer blinzelte hin und wieder, also lebte es, egal in welcher Sprache. In gebrochenem Italienisch fragte ich, ob der Mann Arme und Beine bewegen könne, aber weil er darauf nicht antwortete, war anzunehmen, dass er entweder ernsthaft verletzt war oder mich nicht verstand oder beides. Kapitel 9 ging gut aus, da sich das Opfer im Buch aufrappelt und den Staub von den Kleidern klopft, bevor es seinen Anwalt anruft, eine weitere wichtige italienische Lektion. Aber in diesem Fall war ein glückliches Ende weitaus weniger wahrscheinlich.
    Immer mehr Menschen eilten herbei, und Danielas Krankenwagen kam, gefolgt von einem Ärzteteam, das einen Sichtschutz aufstellte und »Zweite Hilfe« leistete, nachdem ich sozusagen die »Erste« gewesen war, wenn auch keine große. Ob der Fußgänger überlebt hat, weiß ich nicht. Alles, was ich sehen konnte, war der vigile , der den Paravent bewachte und die Neugierigen fernhielt, indem er alle fünf Fingerspitzen schloss wie die Blätter einer Blüte und seine Hand vor und zurück bewegte, als mixe er einen Cocktail – »Was zum Teufel wollen Sie eigentlich?« Der Fahrer diskutierte noch immer mit dem Zeugen, ohne das Blut, das er vergossen hatte, auch nur im Geringsten zu beachten. Die Authentizität meines Lehrbuchs hatte sich auf tragische Weise bewahrheitet.
     
    »Ciao, Daniela. Ich habe gerade die Zwölfuhrnachrichten gesehen. Gorbatschow ist heute Morgen gestorben.«
    Nach einem Monat in der Wohnung, in dem mir nur mein Lehrbuch Gesellschaft leistete, stolperte ich immer seltener über die italienische Sprache. Als ich Daniela bei der Arbeit anrief, um ihr zu sagen, dass der russische Expräsident nun ein verstorbener russischer Expräsident war, war ich meiner Sache so sicher, dass sie die Nachricht an ihre Kollegen weitergab. Aber die Abendnachrichten, die Daniela und ich gemeinsam sahen, sagten etwas ganz anderes. Der nächste Schultag war höchst peinlich für Daniela, da die Kollegen sie informierten, dass Gorbatschows Frau gestorben war.
    Ich hatte schon seit Längerem überlegt, ob ich mich weiterhin mit meinem Lehrbuch einschließen oder lieber einen Intensivsprachkurs besuchen sollte. Dass mir Gorbatschows Frau bei dieser Entscheidung helfen würde, hätte ich allerdings nicht erwartet.
    Aus zahlreichen Sprachschulen wählte ich diejenige aus, die passenderweise Il centro hieß, und zwar wegen ihrer zentralen Lage im kopfsteingepflasterten Brera-Viertel, das trotz heftigen Verkehrs und staubbedeckter, eleganter Gebäude Mailands schönstes Viertel ist.
    Der zweimonatige Kurs, der fünfmal pro Woche stattfand, war anstrengend. Die maestra mit den feuerroten Haaren, die meine Klassenkameraden scherzhaft Il Generale getauft hatten, war knapp über ein Meter fünfzig, aber dafür umso selbstbewusster. Aufwendige Metallohrringe, die an Glockenspiele erinnerten, ließen sie noch kleiner wirken. Sie baumelten an ausgeleierten Ohrläppchen und reichten ihr bis zu den strammen Schultern. Die gedrungene, kurzhaarige Frau trug einen Ring an jedem Finger und sprach sehr schnell, natürlich ausschließlich auf Italienisch. Englisch war streng verboten. Jede Sprache, die nicht Italienisch war, wurde ignoriert. Selbst wenn man sich meldete, um zu sagen, dass man keine Ahnung hätte, wovon sie redete, bestand ihre Antwort aus einem Kauderwelsch, das auch als Italienisch bekannt ist.
    Die stets in Leder gekleidete, zwergenhafte Zungenfertige kannte keine Gnade, wenn es darum ging, Erwachsene herunterzuputzen, die keine Hausaufgaben gemacht hatten.

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