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Siesta italiana: Meine neue italienische Familie

Siesta italiana: Meine neue italienische Familie

Titel: Siesta italiana: Meine neue italienische Familie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chris Harrison
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hätte zulassen sollen, erklärte mir Katia, dass Staatsbedienstete in Italien weder wegen Inkompetenz entlassen noch wegen Fleiß befördert werden können. In der Privatwirtschaft verhalte es sich auch nur geringfügig besser wegen irgendwelcher obskurer Gesetze, die Angestellte gegenüber Arbeitgebern bevorzugen. Anscheinend gehen sie auf die Zeit kurz nach dem Zweiten Weltkrieg zurück, als die Regierung meinte, der Arbeitslosigkeit lasse sich am besten dadurch vorbeugen, dass man Entlassungen verbietet. Der Lehrer lernte mehr als seine Schüler.
    Neben Katias tiefem Dekolletee war es mit das Schönste an meinem Job, das Klassenzimmer zu betreten und die Vokabeln des vorherigen Lehrers an der Tafel vorzufinden. Wie ein Ermittler, der nach Beweisen sucht, bemühte ich mich anhand dieser Überbleibsel, das Thema der vorherigen Konversationen zu erraten. Wenn man die aktuellen Nachrichten kannte, war das meist nicht weiter schwer. Eines Montagnachmittags, nach einem Wochenende, an dem der Fußballriese Juventus zum großen Leidwesen der Milanesi den Champion-Pokal geholt hatte, erwarteten mich an der Tafel die Wörter: manipuliert, Schiedsrichter, Bestechungsgeld, Schande, Eckstoß und Rolex-Uhr. Und am Tag, nachdem Silvio Berlusconi zum primo ministro gewählt worden war, schrien die Wörter auf der Tafel trotz Berlusconis Mailänder Herkunft nach einem Skandal: heimliche Absprachen, korrupt, unehrlich, Affe, Zirkus, narzisstisch, Zwerg.
    Manchmal war das Rätsel kryptischer, und ich brauchte länger, um es zu lösen. Einmal verwirrte mich die Wortkombination Schnorchel, Zunge, Spa, Krabbencocktail, Ohrentzündung und Mondlicht. Diesmal gab ich mich geschlagen und fragte die betreffende Lehrerin anschließend, worum es in ihrer Konversationsstunde gegangen war. Offenbar hatte einer ihrer Schüler Urlaub in einer ägyptischen Ferienanlage am Roten Meer gemacht.
    Es dürfte kaum einen leichteren Job geben, als Konversationskurse für Italiener zu veranstalten. Bei ausländischen Studenten war das deutlich schwerer. So auch bei der schmallippigen Viktoria aus Moskau, der gerade mal zwanzigjährigen Katalogbraut eines wohlhabenden Mailänder Geschäftsmannes. Viktoria, die wunderschön aussah mit ihren blonden Haaren und den rosigen Wangen einer russischen Puppe, trat mit einem Selbstbewusstsein auf, das so hoch war wie ihre Schwindel erregenden Absätze. Und das, obwohl sie so viele Freiheiten besaß wie ein von Autoscheinwerfern geblendetes Reh. Ihr Käufer war über sechzig und gönnte sie sich neben vielen weiteren Luxusgegenständen in seiner Mailänder Villa. Dort lebte sie mit den Kindern aus vorhergehenden Ehen, die älter waren als ihre wohlgeformte Stiefmutter. Viktoria, die selbst eher schweigsam war, wurde bald zum Tagesgespräch der ganzen Schule. Immer wenn sie in einem schwarzen Mercedes vorfuhr, streckte die Sekretärin den Kopf ins Lehrerzimmer und verkündete: »Die Prinzessin geruht ihren Kurs anzutreten.« Aber diese Prinzessin war alles andere als glücklich. Ihre korallenblauen Augen waren ebenso leer wie verführerisch, und während unserer unbeholfenen Unterhaltungen fasste sie ihr »perfektes Leben« auf eine Weise zusammen, dass der Zuhörer anschließend genauso traurig war wie die Sprecherin selbst.
    Aber die meisten Schüler waren redselige Italiener, mit denen sich so manche Freundschaft ergab. Wie die zu dem schrägen Claudio, der mich auf das Weingut seines Vaters einlud, um ihm zu helfen, eine Flasche köstlicher, selbst gemachter Traubenauslese herzustellen. Der siebzehnjährige Claudio war klein, nervös und besaß ein gewieftes Grinsen. Er ging noch zur Schule, wo er das Fundament für seinen Traumberuf – Tierarzt – legte, vorausgesetzt, er lernte genauso viel, wie er redete. Den überwiegenden Teil der Stunde blieb Claudios Shakespeare-Lektüre zu, während er versuchte, mir eine Reihe herabgesetzter Waren zu verkaufen wie einen Armani-Anzug zum halben Preis, Handys zum Selbstkostenpreis sowie freien Eintritt zu Mailands beliebtesten Nachtclubs. Eines Nachmittags machte ich den Fehler, ihm zu erzählen, dass ich keine Karte mehr für das berühmte Milan – Inter Milan-Spiel im San-Siro-Stadion bekommen hätte. Noch am selben Abend klingelte mein Handy.
    »Du hast genau zwei Möglichkeiten«, sagte Claudio. »Ich habe einen Freund mit zwei Karten, die er dir für hundertfünfzig Euro pro Stück verkauft. Ansonsten habe ich noch einen Freund, der sie selbst druckt und der dir

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