Siggi Baumeister 19 - Mond über der Eifel
erlebt hatte. Ich gab ihm zu fressen, und er hielt für ein paar Minuten den Mund.
Der Gedanke an Imre Kladisch und seine Sklavin Pilla Menge machte mich immer noch nervös. Was konnte denn wirklich geschehen, wenn dieser Mann sich in seine Rolle hineinsteigerte und in eine Psychose schlidderte? Es war wirklich eine erschreckende Szene, in der wir uns bewegten.
Dann wollte ich Musik, unbedingt eine kräftige Musik. Ich legte von art by heart Reflecting the Blues ein. Christian Willisohn mit Boris van der Lek, Rehearsal at Grasland. Zuweilen ist es tröstlich, gute Musik wie einen klaren Schluck Wasser zu trinken und das endlose Palaver unter den Menschen zu vergessen.
Seit unserer zweiten Reise in den Nationalpark, seit ich mit Britt Babenz gesprochen hatte, die versuchte, ohne Geld ihre Kinder durchzubringen, und die versucht hatte, mit lächerlich untauglichen Mitteln an ein Informationshonorar zu kommen, hatte ich irgendetwas vergessen, verdrängt, nicht verstanden, übersehen. Ich wusste, es war wichtig, aber ich wusste nicht, was es war. Hatte es irgendetwas mit den Toten Jakob Stern oder Friedrich Vonnegut zu tun, irgendetwas mit der Szene, irgendetwas mit Gerüchten? Babenz hatte gesagt, sie könnten tatsächlich vielen helfen, die zu ihnen kämen. Natürlich, ich hatte die Frage nach dem Wie nicht gestellt. Ich rief sie an und hoffte, dass sie zu Hause war.
Sie meldete sich mit ganz kleiner Stimme, sie klang nach Unglück, sie sagte: »Ich habe den zweiten Job eben verloren. Sie haben gesagt, ich konzentriere mich nicht genug auf die Arbeit, sie haben mich gefeuert.«
»Und was willst du unternehmen?«
»Weiß ich nicht. Vielleicht rede ich mit Semana, vielleicht weiß die etwas. Ich würde mich am liebsten besaufen.«
»Das wird deinen Kindern nicht gefallen. Wo sind die denn?«
»Die sind bei meinen Eltern, sie haben ja jetzt Ferien.«
»Ich kann dir ein Informationshonorar bezahlen, nicht viel, dreihundert vielleicht. Du musst nur ein paar Fragen beantworten.«
»Aber ich habe kein Auto«, sagte sie kläglich. »Brauchst du nicht, ich komme zu dir.«
»Und wann soll das sein?«
»Jetzt«, sagte ich.
5. Kapitel
Ich nahm Reflecting the Blues mit, Willisohns Klavier und Boris van der Leks Saxophon kamen sehr eindringlich, es klang mühelos und brillant, aber dahinter steckten zwei Profis mit lebenslanger Erfahrung. St. James Infirmary war ein Genuss, und ich ließ es gleich viermal laufen.
Wenn du ein Leben lang Journalist gewesen bist, weißt du ganz genau, wo die Schwächen eines Menschen liegen, an welchem Punkt du ihn dazu bringen kannst, von seinem Elend zu berichten. Du brauchst kein kompliziertes Drehbuch, keinen teuflischen Plan, du brauchst nur ein paar Dinge zu erwähnen, von denen du weißt, dass sie Wunden aufreißen. Du wirst so sicher wie das Amen in der Kirche anschließend ein mieses Gefühl haben, aber du wirst in der Geschichte weiterkommen.
Es war halb acht am Abend, als ich das Haus in Wolfgarten erreichte, und es regnete. Die Temperaturkurve hatte einen Knick nach unten gemacht und lag im einstelligen Bereich.
Sie hatte sich eine Hasche Rotwein geöffnet, aber noch nichts getrunken. Sie hatte ein uraltes Gesicht ohne Hoffnung, sagte tonlos: »Komm rein« und ließ sich dann auf die Couch fallen. »Ich weiß ja nicht, was ich noch sagen soll.«
»Das weiß ich auch nicht. Aber mir sind ein paar Fragen aufgestoßen, die ich dir stellen will. Und ich zahle dir ein kleines Informationshonorar. Besser als gar nichts, denke ich.«
»Ja«, nickte sie nur. »Willst du Wein?«
»Danke. Ich will nur einen Schluck Wasser.«
»Dann hole ich dir welches. Eigentlich müsste ich mal Hausputz machen, eigentlich müsste ich alles Mögliche machen. Aber ich bin nur noch müde, und ich mache nichts.«
»Du hast gesagt, dein Mann hat vor einem Jahr mit den Zahlungen aufgehört. Wer zahlt denn die Miete hier?«
»Mein Vater.«
»Und du zahlst mit deinen Jobs die Ernährung, die Klamotten, alles eben?«
»Ja. Aber das reicht nie.«
»Warst du noch nicht beim Sozialamt?«
»Nein, war ich nicht. Hat auch keinen Zweck. Mein Vater hat gesagt, er hört sofort auf, mir zu helfen, wenn ich zum Amt gehe und Hilfe beantrage. Er sagt, unsere Familie tut so was nicht. Basta!«
»Ich lege dir dreihundert hin, dann kommst du einen Monat weiter.« Ich fummelte dreihundert Euro aus der Tasche und legte sie auf das Tischchen. »Das ist rabenschwarz, du brauchst es nicht zu quittieren. Was
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