Siggi Baumeister 19 - Mond über der Eifel
Dazu gab er jede Menge wichtige Hinweise für das Leben an sich. Zum Beispiel, dass alle Autofahrer, die auf diesem Streckenabschnitt unterwegs seien, Lackel wären und hirnlose Idioten. Dass der LKW-Fahrer vor uns garantiert seit vierzehn Tagen nicht mehr in den Rückspiegel geschaut habe, und wieso sämtliche Kreisverkehre in der Eifel grundsätzlich zu klein angelegt seien. Er war richtig gut drauf.
Es war die Strecke, die wir mittlerweile gut kannten. Im Kreisverkehr in Schleiden nach rechts Richtung Olef, dann links ab auf die L207 nach Herhahn, dann die B266 an Vogelsang vorbei Richtung Einruhr, dort nach links, und dann in einem Rechtsbogen zu unserem Ziel. Eigentlich eine traumhafte Strecke, und vor allem die steile Abfahrt durch das Sauerbachtal war landschaftlich sehr schön, aber wir waren an anderem interessiert, wir wollten zu Sonja, die mich im ersten Satz zum »Schätzchen« erhoben hatte.
»Wie bezahlen wir die eigentlich?«, fragte Rodenstock.
»In bar«, erwiderte ich. »Das ist so üblich.«
Wir fragten eine alte Dame, die langsam quer über eine Kreuzung trabte.
Sie sah uns misstrauisch an, sie quengelte: »Sonja? Ich glaube da!« Es klang viel schlimmer als eine Beleidigung.
Es war ein kleines Haus, gebaut aus dem braunen Bruchstein, den man hier findet. Es gab Geranien auf den Fensterbänken, und es gab neben der Klingel eine hausgebackene Scheibe Ton, in die das Wort Sonja eingeritzt war. Links stand in einer Einfahrt ein mindestens dreißig Jahre alter Renault, der wahrscheinlich seit ebenso langer Zeit nicht mehr bewegt worden war. Beide Vordersitze fehlten.
Ich klingelte.
Dann stand sie in der Tür, ein Berg von einem Weib. Sie dröhnte: »Da seid ihr ja endlich!«
Sie war über 1,80 Meter groß, hatte schwarz getönte Haare, die ihr bis auf die Schulter hingen. Die Schultern waren breit wie eine Schrankwand. Sie trug einen grauen Trainingsanzug, auf dem University ’68 stand und Plastiklatschen, die rosafarben leuchteten.
»Ich geh mal vor«, dröhnte sie. Für jede ihrer Türen war sie zu groß, was zur Folge hatte, dass sie den Kopf ständig leicht nach rechts geneigt trug. »Ich hatte heute wüst Betrieb«, erklärte sie. »Da machste was mit!«
Es war unmöglich zu schätzen, wie alt sie sein mochte. Sie konnte ebenso fünfzig sein wie siebzig. Ihr Gesicht war zu ahnen, aber nicht zu erkennen, sie hatte es gezielt verwüstet. Ihre Augen, wahrscheinlich braun, waren stark tiefschwarz breit umrandet, der Lippenstift, den sie benutzte, zeigte eine merkwürdig dunkle Färbung ins Violette hinein. Ich konnte sie mir sofort als Domina vorstellen, die ihre Kunden lautstark anbrüllt: Was will mein Baby? Willst du Mama nicht endlich gehorchen, muss die Mama dich strafen? Brauchst du die Peitsche?
Der Raum, in den sie uns führte, war ein Chaos. Ich lege normalerweise auf innenarchitektonische Feinheiten keinen Wert, aber so viel Nippes auf einem Haufen hatte ich noch nie gesehen. Es gab Plüschtiere in allen Größen, es gab Keramik und Porzellan in allen Varianten, es gab Teddys, Entchen, Küken, Dinos, Giraffen, Wale und Soldaten und Polizisten aus Plüsch. Und es gab Bilder von Jesus, die meisten über zwei Quadratmeter groß. Jesus im Olivenhain, Jesus vor den Toren Jerusalems, Jesus, der über das Wasser geht, Jesus, der einer Menschenmenge predigt, Jesus, der das Brot bricht, Jesus im Kreise seiner Jünger, Jesus, der sein flammendes Herz zeigt. An den Wänden war kein Quadratzentimeter mehr Platz.
»Mein Gott!«, sagte Rodenstock neben mir inbrünstig.
In der Mitte gab es einen kleinen Schreibtisch, der ebenfalls mit Nippes überladen war, und auf dem gebrauchte Tassen und Gläser in Mengen herumstanden. Sie hatte für sich einen schwarzen Bürostuhl vorgesehen, und vor diesem Platz lag eine dicke Glaskugel auf einem Stück blauer Seide auf der Schreibtischplatte. Wir bekamen zwei sehr harte und unbequeme Stühle auf der anderen Seite. Über diesem Schreibtisch hing ein kleiner Kronleuchter mit etwa zwanzig leuchtenden Elementen in Blau und Rot.
»So etwas habt ihr noch nicht gesehen«, stellte sie einleitend fest und lachte dann, dass es schepperte. »Was kann ich für euch tun, Jungens?«
»Das wissen wir noch nicht genau«, sagte Rodenstock sehr gemütlich. »Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder, Sie üben Ihren Beruf aus, oder aber wir unterhalten uns vernünftig.«
»Und was ist eine vernünftige Unterhaltung?«, fragte sie lächelnd, und ihre Gesichtszüge wurden
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