Sigma Force 05 - Das Messias-Gen
dröhnte Gray entgegen. »Ich protestiere gegen diese Travestie!«, brüllte er. »Hier stehen wir und beglückwünschen uns gegenseitig dazu, dass wir diesen beschämenden Teil der russischen Geschichte ausradieren - dass wir ihn unter einer Stahldecke verstecken , als hätte
sich das Unglück nie ereignet. Aber was ist mit denen, die bei der Explosion ums Leben kamen, was ist mit den Hunderttausenden, die an Krebs und Leukämie sterben werden, was ist mit den Tausenden Säuglingen, die an Missbildungen, Schmerzen, geistigen Behinderungen leiden? Wer tritt für sie ein?«
Gray war dem Veranstaltungsort inzwischen so nahe gekommen, dass er die Bühne vor der Tribüne sehen konnte. Die Menschen waren noch zu klein, um sie zu unterscheiden, doch seitlich an der Bühne waren große Videomonitore aufgebaut. Auf dem einen sah man den russischen Präsidenten, auf dem anderen den Präsidenten der Vereinigten Staaten. Beide standen hinter einem Podium. In der Mitte der Bühne stand eine weitere Gestalt inmitten des Chaos. Nicolas Solokow. Sicherheitskräfte versuchten, den Abgeordneten von der Bühne zu zerren, während andere ihn abschirmten, damit er weitersprechen konnte. Inmitten des Durcheinanders war Nicolas offenbar auf die Bühne gestürmt, um seinen dramatischen Protest in die ganze Welt übertragen zu lassen.
Männer in schwarzen Anzügen umringten den Präsidenten und schirmten ihn ab.
Was immer Nicolas vorhaben mochte, es hatte bereits begonnen. Gray duckte sich noch tiefer auf den Lenker hinunter und gab Vollgas. Das Motorrad raste über die Asphaltstraße auf die Bühne zu.
Aus den Lautsprechern kam das schrille Pfeifen einer Rückkopplung, dann fuhr Nicolas mit erhobener Stimme fort: »Sie alle glauben, mit so einem hübschen Sarg könnte man dem verfluchten Vermächtnis ein Ende machen, doch Sie irren sich! Das Monster ist bereits aus dem Käfig entwichen! Ganz gleich, wie sicher das Schloss und wie dick der Stahl sein mögen, Sie können das Monster nicht wieder einsperren. Die einzige Möglichkeit, diesem Vermächtnis gerecht zu werden,
besteht in einem grundlegenden Einstellungswandel, der eine aufrichtige, nachhaltige Politik zur Folge hat. Diese Feier ist nichts weiter als eine heuchlerische Scharade! Viel Aufhebens um nichts! Wir sollten uns schämen!«
Endlich hatten die Sicherheitskräfte die Unterstützer des Abgeordneten überwältigt. Jemand riss Nicolas das Mikrofon aus der Hand. Er wurde hinter die Bühne gezerrt.
Der russische Präsident ergriff das Wort; er klang zornig und verlegen. Der US-Präsident bedeutete seinen Bodyguards, sich zurückzuziehen, denn er wollte nicht den Eindruck erwecken, er lasse sich von einem angeberischen Politiker ins Bockshorn jagen. Die Ansprachen wurden fortgesetzt.
Hinter der Bühne schickte sich der Hangar an, den Reaktor zu verschlucken.
Gray bremste ab. Er hatte sich noch immer nicht entschieden, ob er die Tribüne oder den Reaktor ansteuern sollte. Er vergegenwärtigte sich Nicolas’ Protest und seinen dramatischen Abgang. Das war alles arrangiert gewesen. Der Abgeordnete hatte einen Vorfall in Szene gesetzt, damit man ihn wegbrachte und er nicht an der Veranstaltung teilnehmen musste. Aber wohin war er verschwunden? Das hatte er bestimmt nicht dem Zufall überlassen. Das Risiko, selbst in Mitleidenschaft gezogen zu werden, würde er bestimmt nicht eingehen. Die Leute, die Nicolas von der Bühne gezerrt hatten, mussten in seinen Diensten stehen und brachten ihn nun in Sicherheit.
Hinter dem Gewimmel der Übertragungswagen machte Gray einen grünen Armeejeep aus, der sich mit großer Geschwindigkeit vom Medienbereich entfernte. Er fuhr auf einer unbefestigten Straße parallel zu den zweieinhalb Meter hohen Schienen des riesigen Hangars. Der mit Schlaglöchern übersäte Weg führte weg vom Reaktor und um das Schienenende herum zur Rückseite der Anlage.
Auf dem Rücksitz machte Gray eine Gestalt aus.
Nicolas.
Gray blickte nach oben. Das gleißende Stahlgebilde hatte inzwischen die Hälfte des schwarzen Sarkophags verschluckt. In einer Viertelstunde würde er ihn vollständig umhüllen. Die Tribüne stand etwa fünfhundert Meter vom Reaktor entfernt.
Gray musste eine Entscheidung treffen.
Er dachte daran, wie Nicolas Solokow bei der Befragung in dem Wachhäuschen hinter dem Schreibtisch gesessen hatte. Angefangen vom Schnitt seiner Kleidung bis zu seiner Ausdrucksweise hatte er arrogante Selbstsicherheit ausgestrahlt, Ausdruck eines Egos, das
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