Silber
lebend.“
Diese Stimme kannte sie.
Sie kannte sie, weil sie sie heute stundenlang gehört hatte.
Sie kannte sie, weil sie dumm genug gewesen war, ihr zu vertrauen.
Uzzi Sokol.
Die rechte Hand der Kröte.
19
DIE KONTROLLE
Sir Charles Wyndham erledigte den Anruf kurz vor Mitternacht. Nach dem dritten Klingeln meldete sich empört eine verschlafene Stimme: „Ich hoffe sehr, dass es sich um eine dringende Angelegenheit handelt.“
„Wenn der kahlköpfige Mann eine Kette durch die Zunge trägt, wie kann er dann singen?“, sagte Sir Charles, wobei er jede einzelne Silbe sorgfältig betonte. Es war kein sonderlich raffinierter Einstieg in ein Gespräch. Wenn jemand die Leitung abgehört hätte, wäre er sofort neugierig geworden.
„Wie bitte?“, sagte der Mann. Der Alte konnte hören, dass die Stimme mit der gekünstelten Sprechweise nun schlagartig wacher klang.
„Wenn der kahlköpfige Mann eine Kette durch die Zunge trägt, wie kann er dann singen?“
„Um Himmels willen, weißt du eigentlich, wie spät es ist?“
Sir Charles hatte nicht das geringste Mitleid mit dem Mann. Er war faul und bequem geworden. Wie so viele andere in der Führungsriege der Branche glaubte er mittlerweile, dass er ein Anrecht auf geregelte Arbeitszeiten hätte.
Nächtliche Anrufe, geheime Parolen und heimliche Treffen waren etwas für das Fußvolk.
„Wir müssen uns unterhalten“, sagte er.
„Das
tun
wir gerade.“
„Diese Leitung ist nicht sicher. Wir treffen uns bei der
Fagus sylvatica
. Erstes Licht. Wir müssen uns über Dinge unterhalten, die man besser von Angesicht zu Angesicht besprechen sollte.“
Er legte den Hörer auf, bevor der andere Mann etwas antworten konnte.
Max, der Butler, schob den Alten in seinem Rollstuhl über einen mit Holzspänen ausgestreuten Reitweg. Er wurde von den Einheimischen die „Rotten Row“ genannt, allerdings klang der Name deutlich schlimmer, als der Weg tatsächlich war. Die Vögel fingen gerade an zu singen, ihr Morgengezwitscher brach über ganz London an. Der sorgfältig gepflegte Rasen des Hyde Parks war mit Tautropfen übersät, die wie kleine Diamanten glitzerten. Die Luft war kalt und klar. Es war eine der wenigen Stunden des Tages, in denen man nicht das Gefühl hatte, dass London an seiner eigenen Luftverschmutzung erstickte.
Ein Stück vor ihnen gaben zwei Reiter der Household Cavalry ihren Pferden ein bisschen Auslauf. Die Trommelschläge der Hufe brachten die Erde unter ihnen zum Vibrieren. Sir Charles konnte sie selbst durch den Stahlrahmen seines Rollstuhls spüren. Auf seinem Schoß lag eine gefaltete Decke, und darüber eine gefaltete Tageszeitung. Ein paar morgendliche Jogger kreuzten den Weg – sie flossen um sie herum wie eine menschliche Demonstration der Brownschen Bewegung. Eine Frau mit einer kurzen schwarzen Bobfrisur lief ein Stück weit neben ihnen her, die schwarze Miniaturausgabe eines Pudels trippelte ihr eifrig nach. Der Alte fand es immer wieder amüsant, wie ein bestimmter Typ von Hundebesitzern sich unterbewusst sein Haustier modellierte. Es war fast so, als ob sie kleinere Versionen ihrer selbst heranzüchten würden.
Zweibeiner gut, Vierbeiner schlecht
, dachte er leicht spöttisch, während er den schwingenden Hüften der Frau nachblickte, die sich verführerisch im Takt ihrer Schritte wiegten.
Sir Charles verbrachte gern den Morgen im Hyde Park. Überall wimmelte es von Leben, und es waren nicht nur Jogger und Vögel, sondern auch Gleithörnchen und Rotfüchse. Es war ein eigener Mikrokosmos inmitten der Stadt.
In einiger Entfernung sah der Alte einen großen Mann mit Nadelstreifenanzug und Bowler, der über den Platz des ehemaligen Tyburn Gallows unten bei der Speakers’ Corner ging. Selbst auf diese Distanz erkannte er ihn sofort. Er hatte den forschen und federnden Schritt der Alten Schule von England, besser konnte man es nicht umschreiben. Es sah schon fast grotesk aus, wie er seinen Gehstock mit dem silbernen Griff in der rechten Hand wirbeln ließ. Sir Charles konnte selbst über die Entfernung das fröhliche Pfeifen des Mannes hören. Während diese wandelnde Karikatur eines britischen Gentlemans auf ihn zusteuerte, fragte Sir Charles sich ununterbrochen, wie zum Donnerwetter Quentin Carruthers seine Feldeinsätze hatte überleben können. In jüngeren Jahren war er selbstverständlich ein adretter Dandy gewesen, ein Lebemann, der Spaß daran hatte, mit den Jungs hart zu arbeiten, bis an die Grenzen zu gehen und kaum zu
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