Silber
Handy?“ Die Frau nickte. Natürlich hatte sie eins. Heutzutage hatte wirklich jeder ein Handy. „Dürfte ich es vielleicht benutzen? Ich muss bei meinen Leuten anrufen und sagen, dass es mir gut geht.“
„Selbstverständlich.“ Die Frau kramte in ihrer Handtasche und gab ihr ein kleines, goldenes Motorola mit D&G-Logo darauf. Orla nahm das Telefon und klappte es auf. Sie wählte die +44 für England und betete, dass das Freizeichen nicht von der Ansage unterbrochen wurde, dass der aktuell gewählte Tarif leider keine Gespräche ins Ausland gestattete. Die Ansage blieb aus. Sie tippte den Rest der Nummer von Nonesuch ein.
Lethe nahm nach dem zweiten Klingeln ab. Es klang, als ob er direkt neben ihr sitzen würde, als er sagte: „Lethe meldet sich zum Dienst.“
Sie stieß einen langen, zitternden Seufzer aus. Sie hatte keine Ahnung gehabt, wie gut es tun würde, eine vertraute Stimme zu hören. Sie schloss die Augen und lächelte. „Hey Jude.“
Er antwortete ihr mit dem Rest der bekannten Songzeile, dann fragte er: „Geht es Ihnen gut? Ach, verdammt, blöde Frage, ich weiß. Ich meine … sind Sie verletzt worden?“
„Ja“, sagte sie, und meinte damit: Ja, es ging ihr gut, ja, sie war geflohen, und, ja, sie war verletzt worden, aber lange nicht so schlimm, wie sie ihre Peiniger dafür büßen lassen wollte. „Ich brauche eine Adresse, Jude. Gavrel Schnur. Es müsste in Ramat Aviv sein, im nördlichen Teil der Stadt. Er ist Offizier bei den Israelischen Streitkräften.“
„Bin schon dabei, geben Sie mir eine Sekunde. Es ist schön, Ihre Stimme zu hören, Orla. Ich dachte schon, ich würde sie nie …“ Er unterbrach den Gedanken. Er musste ihn nicht zu Ende sprechen. Er war ihr selbst oft genug durch den Kopf gegangen, während sie in dem finsteren Keller eingeschlossen war.
„Ich weiß“, sagte sie. „Richte dem Alten aus, dass ich bald nach Hause komme. Ich muss mich nur noch um eine kleine Angelegenheit hier kümmern.“
„Sie wissen, was er davon halten wird“, sagte Lethe.
„Ja. Deswegen sage ich es auch dir und nicht ihm. Hast du die Adresse für mich?“
Es lag an der 481, dicht bei der Küste. Sie kannte das Viertel. Es war keine Gegend, die sich ein junger Politiker hätte leisten können, selbst dann nicht, wenn er ein aufstrebender Stern im Likud-Block war, und der gemeinsame Schützling von Menachem Begin, Jitzchak Schamir und Benjamin Netanjahu. Hier wohnte nur alteingesessener Geldadel, der über jede Menge altes, schmutziges Geld verfügte. Das hätte ihr erster Anhaltspunkt sein können, als sie damals das Foto von Schnur und seiner Frau Dassah gesehen hatte. Irgendwie musste Schnur schließlich an sein Vermögen gekommen sein, und das Überseekonto bei Hottinger & Compagnie und die Einlagen von Silverthorn fügten sich plötzlich logisch in das Gesamtbild ein. Das Geld kam von Caspi. Jetzt verstand sie auch den Witz an der Geschichte: Silverthorn – der Silberdorn. Alles wurde versilbert – selbst die Dornenkrone von Jesus Christus. Sie starrte aus dem Fenster und sah die Straße vorbeiziehen.
„Wer ist dieser Schnur?“
„Mabus“, sagte sie und war dankbar, dass die Konversation nur für sie beide einen Sinn ergab. Sie lächelte der Frau zu, um ihr zu signalisieren, dass alles in Ordnung war. Sie konnte sich gut vorstellen, dass sie dabei aussah wie eine Geisteskranke.
„Seien Sie vorsichtig, Orla. Versprechen Sie’s mir.“
„Ich werde bald zu Hause sein“, sagte sie. Das war nicht das Versprechen, um das er sie gebeten hatte, aber es war das einzige, das sie ihm geben konnte. Sie hatte nicht vor, vorsichtig zu sein. Die Zeit der Vorsicht war vorbei. Sie war auf der Jagd nach dem Mann, der ihr in den vergangenen Tagen die Hölle auf Erden bereitet hatte. Sie unterbrach die Verbindung und gab der Frau das Telefon zurück. „Vielen Dank“, sagte sie noch einmal. „Ich kann Ihnen leider kein Geld für den Anruf geben, es tut mir leid. Mein ganzes Geld ist im Hotel.“
„Ist schon gut, meine Liebe, sprechen wir nicht davon. Wo übernachten Sie?“
Sie nannte ihnen die Adresse von Gavrel Schnur, das große Haus neben der 481, unten am Wasser.
Ihre guten Samariter fuhren in ihrem weißen Wagen vor dem blauen Himmel über die Küstenstraße davon.
Die Dreizehn Schreie würden nicht vermuten, dass sie hier in Tel Aviv bleiben würde. Sie würden erwarten, dass sie die Flucht ergriff und sich so weit wie möglich von ihnen entfernte. Schnur würde nicht
Weitere Kostenlose Bücher