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Silber

Titel: Silber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steven Savile
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Evangelium geschrieben hatte, das man Petrus zugesprochen hatte. Es war ein bedeutendes Passionsevangelium des frühen Christentums; man hatte es jedoch als ketzerische Schrift verurteilt, weil darin nicht Pontius Pilatus, sondern Herodes Antipas die Schuld an der Kreuzigung Christi traf. Orla überlegte weiter: Auch die Auferstehung und die Himmelfahrt mussten nicht zwingend zwei verschiedene Ereignisse sein. Im Matthäusevangelium stand, dass der letzte Ausruf Jesu am Kreuz lautete: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“. Petrus dagegen schrieb, dass Jesus nicht Gott angerufen, sondern stattdessen gefragt habe: „Meine Kraft, meine Kraft, warum hast du mich verlassen?“ – und dass er danach direkt in den Himmel gefahren sei. Es war keine Rede davon, dass Jesus starb. Sie konnte sich auch daran erinnern, dass es in Petrus‘ Version keine Treulosigkeit gab. Dort wurden alle Jünger verhaftet, nachdem sie geplant hatten, den Tempel niederzubrennen. War das möglicherweise aus der Perspektive von Judas geschrieben? War das die Wahrheit über Judas Iskariot?
    Petrus war der Fels, auf dem die katholische Kirche gebaut war. Judas hatte den Verrat begangen, auf den die katholische Kirche sich begründete. War es möglich, dass die beiden in Wahrheit ein und dieselbe Person waren? Oder waren das alles nur theosophische Phrasen gewesen, mit denen Schnur versucht hatte, sie einzuwickeln?
    Nun, sie konnte zumindest nachvollziehen, dass die Jünger von Judas nicht an die Vergebung aller Sünden durch das Leiden Jesu am Kreuz glaubten, wenn sie die Schriften von Matthäus, Markus, Lukas und Johannes ablehnten. Schließlich handelte es sich dabei aus ihrer Perspektive um nichts anderes als Propaganda und Lügengeschichten, nicht wahr? Sie dienten nur dazu, die neue Geistlichkeit einzuführen und im Nachhinein einen Glauben daraus zu kreieren. Wie hatte die Kröte es ausgedrückt? All die Kriege und sinnlosen Gewaltakte ließen ihn glauben, dass die Menschheit nicht erlöst, sondern verdammt war. Sie fragte sich, ob er das wirklich glaubte, oder ob es für ihn nur eine einfache Ausrede dafür war, sich an den Menschen zu rächen, die seiner Ansicht nach für den Tod seiner Frau verantwortlich waren. Dafür eine ganze Religion zu bekämpfen schien ihr allerdings eine ziemlich drastische Maßnahme zu sein.
    Aber war es in der Apostelgeschichte des Lukas nicht so, dass Petrus sich erhob, um Judas des Verrates zu bezichtigen? In demselben Absatz wurde auch in grausigen Details Judas‘ Tod beschrieben, wie seine Eingeweide aus ihm hervorquollen, als er auf dem Blutacker entzweibrach. Hatten die Apostel anschließend nicht Matthias an der Stelle von Judas in ihre Ränge aufgenommen? Sie konnte sich Schnurs Gegenargument dazu gut vorstellen: Im Lukasevangelium gab es einen Judas Thaddäus, und Johannes hatte zwar keinen der Zwölf beim Namen genannt, dafür aber noch einen Nathan hinzugefügt. Da gab es so viele schriftliche Zeugnisse, und die Verfasser konnten sich nicht einmal auf die Namen ihrer Hauptfiguren einigen. Petrus wurde mit Judas in fast allen anderen Evangelien gleichzeitig erwähnt, nur nicht in seinem eigenen. Sollte das ein revisionistischer Akt sein, um den Sünder aus der Geschichte zu tilgen? Oder sollte irgendetwas anderes damit vertuscht werden?
    In den Schriften der übrigen Evangelisten wurde von großen Wundertaten berichtet, von der Heilung der Kranken, der Vertreibung der Dämonen und sogar von der Wiederauferstehung der Toten. In der Passion des Petrus gab es nichts dergleichen. Dafür war die Geschichte vom Blutacker geradezu grotesk; dass Judas zerrissen wurde und platzte, klang fast wie aus einem schlechten Film. Und es war nicht einmal eine besonders glaubhafte Lüge.
    Darüber hinaus gab es natürlich noch die sprachlichen Schwierigkeiten. Die ursprünglichen Texte benutzten kein allzu großes Vokabular, das hieß, dass die Übersetzungen leicht ein bisschen göttlicher gestaltet werden konnten, wenn der Übersetzer das anstrebte. Im Aramäischen zum Beispiel wurde für die Präpositionen
auf
und
bei
oft dieselbe Silbe benutzt – was ein ganz anderes Licht auf die Sache mit dem Auf-dem-Wasser-Wandeln werfen konnte. Was wollte Petrus also verheimlichen? Welche Wahrheit wollte er aus seinen Aufzeichnungen bannen? Wenn er nicht selbst Judas war, kannte er dann vielleicht die Wahrheit über Judas?
    Allem Anschein nach lief es wieder auf die Bedeutung des Wortes Messias hinaus. Aber

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