Silber
damit rechnen, dass sie in seinem eigenen Haus auf ihn warten würde. Das war weder logisch noch vernünftig. Aber Rache hatte auch nichts mit Vernunft oder Logik zu tun.
Die Einfahrt war nicht durch ein Tor versperrt, und sie konnte keine Überwachungskameras sehen – was nicht heißen musste, dass es keine gab.
So viele Fragen brannten in ihr. Sie wollte Schnur von Angesicht zu Angesicht fragen, warum er das alles getan hatte, warum er sich mit Salomon und Devere eingelassen hatte, nur um all dieses Leid über die Menschen zu bringen. Sie wollte hören, wie er versuchte, seine Handlungen zu verteidigen. Würde er alles auf die Ermordung seiner Frau schieben? Oder den Tod seines Sohnes? Spielte es überhaupt eine Rolle, was er sagte? Es gab keine Rechtfertigung für das, was er getan hatte. Die vermeintlichen Gründe dafür zu hören würde den Kröten-Mann vielleicht menschlicher erscheinen lassen, aber er würde dadurch nicht zum Menschen werden. Nichts auf dieser Welt war dazu imstande.
Sie ging auf sein Haus zu.
Es war merkwürdig, dass er nicht umgezogen war, nachdem seine Frau auf der Einfahrt ums Leben gekommen war. Andererseits brauchte er diese beständige Erinnerung vielleicht, um seinen Hass zu schüren, überlegte Orla.
Es war erst kurz nach Mittag, also war die Kröte vermutlich gerade bei der Arbeit, oder auf dem Weg zu dem Lebensmittelgeschäft, um ihr den Rest zu geben. Er würde erst später zurückkommen. Das verschaffte ihr Zeit, in sein Haus einzubrechen und ihre Spuren zu verwischen, damit sie ihn gebührend empfangen konnte, wenn er eintraf.
Sie beschloss, ihm keine Fragen zu stellen.
Sie wollte seine Antworten nicht hören.
Der Kröten-Mann kam erst drei Stunden später nach Hause.
Sie hatte Zeit.
Sie saß an seinem Schreibtisch und atmete den Nachhall seines Körpergeruchs ein. Alles hier stank nach Gavrel Schnur. Orla lehnte sich in dem hohen Bürostuhl aus Leder zurück, sie trug ein Kleid seiner verstorbenen Frau. Sie hatte eine ähnliche Größe gehabt, wenn nicht sogar dieselbe. Schnur hatte ihren Kleiderschrank gepflegt wie einen Schrein. Jedes einzelne ihrer Kleidungsstücke hing auf einem Bügel, sorgfältig gebügelt. Ihr Tod musste ihn wirklich schwer getroffen haben. Orla hatte ein Foto von Dassah gefunden, und ihre Haare so frisiert, dass die Kröte auf den ersten Blick glauben konnte, ein Geist würde dort auf seinem Stuhl sitzen.
Sie blätterte seine Unterlagen durch und suchte nach dem Namen Salomon. Sie wollte seinen Nachnamen. Sie wollte eine Adresse. Irgendetwas, egal was. Sie wollte eine Verbindung zwischen Schnur, Salomon und Devere, und sie wollte herausfinden, wer von ihnen der Idealist, wer der Fanatiker und wer der Opportunist war. Sie vermutete, dass es in dieser Reihenfolge Salomon, Schnur und Devere waren, aber sie wollte nicht ihr Leben darauf verwetten.
Sie durchstöberte die Schubladen und suchte nach einem verborgenen Safe. Sie konnte keinen entdecken, was aber nicht heißen musste, dass die Kröte keine kleinen Geheimfächer in ihrem Büro hatte. Jeder hatte seine kleinen Verstecke. Sie schaltete seinen Computer ein, doch der war durch ein Passwort geschützt. Sie war längst nicht so geschickt im Umgang mit Technik wie Lethe, also montierte sie kurzerhand die Festplatte aus dem Gehäuse. Sie würde Lethe damit spielen lassen, wenn sie wieder in Nonesuch war. Die Daten darauf würden ihr Willkommensgeschenk sein.
Orla drehte sich mit dem Stuhl herum, bis sie mit dem Rücken zur Tür saß. Sie wollte nicht, dass er sie sofort sah, wenn er den Raum betrat. Sie saß alleine in der Stille des Hauses und wartete. Ihr fiel etwas ein, das er in seinem Büro zu ihr gesagt hatte. Er hatte ihr erzählt, dass Judas Iskariot im Petrusevangelium nicht erwähnt wurde, und er hatte sie nach ihrer Meinung dazu gefragt. Als sie jetzt noch einmal darüber nachdachte, bemerkte sie erst, dass das tatsächlich merkwürdig war. Petrus war der Fels, auf den die katholische Kirche gebaut war, er war der Erste Apostel – und er hatte kein einziges Wort über den Verrat an seinem Herrn verloren? Dem Johannesevangelium nach hatte Petrus bei der Verhaftung von Jesus mit seinem Schwert das rechte Ohr des Malchus abgeschlagen. Wenn Judas wirklich der große Verräter war, wie konnte es dann sein, dass Petrus nichts über ihn geschrieben hatte?
Plötzlich kam ihr der Gedanke, dass Judas Iskariot und Simon Petrus vielleicht ein und dieselbe Person waren, und dass Judas das
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