Silber
selbst, wenn der Messias nichts Göttlicheres tun musste, als Freiheit und Frieden für Israel zu bringen – man konnte kaum behaupten, dass der Judaskuss Frieden gebracht hätte. Die Römer hatten Judäa und Jerusalem noch fast ein weiteres Jahrhundert nach Jesus‘ – und auch Judas‘ – Tod besetzt gehalten. Und selbst danach waren die Juden immer noch im Exil gewesen.
Israel war in ihrem Blut. Sie kannte die Geschichte und das Leid dieses Landes fast so gut wie die Menschen, die hier lebten. Sie hatte sich mit der Diaspora und der Zerstörung des Ersten Tempels beschäftigt. Sie verstand, was für dramatische Auswirkungen die Zerstörung des Zweiten Tempels gehabt hatte. Und sie verstand, warum Simon bar Kochba damals ein so großer Hoffnungsträger gewesen war. Bar Kochba hatte einen judäischen Staat Israel gegründet, sieben Jahrhunderte nach dem Beginn der Diaspora. Diesen Staat hatte er selbst als
Nasri
drei Jahre lang regiert, und mit ihm hatte er den überall versprengten Juden eine neue Heimat geboten. Nach Schnurs Definition musste bar Kochba wohl ein besserer Messias gewesen sein als Jesus Christus oder Judas Iskariot. Zwei Jahre hatte er erbittert gegen die Römer gekämpft, um die Freiheit seines neuen Israels aufrechtzuerhalten, aber er hatte seinem Volk dennoch drei Jahre lang ein Zuhause gegeben. Er hatte sie vereint. Nach seinem Versagen war die Geschichte allerdings sehr unsanft mit ihm umgegangen – die Juden waren wieder verstreut, versklavt oder vertrieben worden – und die Autoren, die wenig Verständnis für seine Sache zeigten, änderten seinen Namen auf Simon bar Koseba – Simon, der Sohn der Lüge.
Das war der Lauf Dinge. Die Geschichte wurde immer von den Siegern geschrieben, nicht von den Verlieren – es reichte nicht, dass sie sich wacker geschlagen hatten.
Sie wusste die Antworten auf diese Fragen nicht.
Zweitausend Jahre später wusste sie niemand mehr.
Sie glaubte nicht, dass es ihnen bestimmt war, die Wahrheit zu erfahren.
Und letzten Endes war es eine Glaubensfrage. Darauf ließen sich all diese Widersprüche zurückführen. Manche Menschen wollten glauben, dass Jesus am Kreuz gestorben war, um die Menschheit von ihren Sünden zu erlösen. Sie wollten glauben, dass die Opferung seines irdischen Körpers eine Bedeutung gehabt hatte.
Die heiligen Worte, an die sich so viele Menschen klammerten, aus denen sie Kraft und Hoffnung schöpften, konnten zu fast jeder beliebigen Deutung verdreht werden, und es war praktisch unmöglich herauszufinden, welche davon nun der Wahrheit entsprach.
Unter dem Strich war es egal, woran sie selbst, Schnur oder sonst jemand von ihnen glaubte. Auch, wenn es unwahrscheinlich war: Es war möglich, dass Judas Petrus war, oder dass er ein Messias, oder
der
Messias war; er konnte beides sein, oder keins davon. Es war gleichgültig. Die Menschen würden immer einen Weg finden, die Wahrheit so zu verformen, wie sie sie sich wünschten.
Das war die einzige unumstößliche Wahrheit.
Dann traf die Erkenntnis sie wie ein Schlag. Die Botschaften, die päpstlichen Prophezeiungen, die Quatrains von Nostradamus, der Vortrag über die Bedeutung des Wortes Messias – alles fügte sich zusammen. Mabus hatte nie die Ankunft des Antichristen verkünden wollen, wie die Prophezeiung von Nostradamus das tat. Er verkündete die Ankunft des neuen Messias. Mabus war der Vorbote Caspis. Er hatte gesagt, dass Caspis richtiger Name Salomon lautete. Ein Kriterium für den Messias war, dass er Israel wieder zur Heimat der Juden machte; ein weiteres bestand darin, dass er den Tempel wieder errichtete. Und wer hatte den Ersten Tempel erbaut?
Salomon.
Es war Salomons Tempel.
Das war die Lösung. Caspi betrachtete sich selbst nicht als den Satan, er sah sich als den neuen Messias an. Er war der Mann, der Israel Frieden bringen würde, indem er einen Judenstaat gründete. Jetzt wusste sie, dass Salomon ebenso wenig sein richtiger Name war wie Akim Caspi.
Plötzlich ergab alles einen Sinn. Sie konnte sich vorstellen, wie Salomon Gavrel Schnur für seine Zwecke rekrutiert hatte: mit dem Tod von Dassah. Es war tatsächlich das Ereignis gewesen, das für ihn den Ausschlag gegeben hatte. Das erklärte den Schrein in seinem Büro, und den im ersten Stock. Sie spielte immer noch eine tragende Rolle in Schnurs Leben. Dassah Schnur war ermordet worden, weil er öffentlich die jüdische Präsenz am Westufer und im Gaza-Streifen befürwortet hatte. Er hatte sein ganzes Leben
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