Silber
Hand, dann hielt sie sie gerade und zielte genau auf Ronans Gesicht. Sie trug eine schwarze Sturmhaube, unter der sich ein paar dunkle Locken hervorringelten. Sie hielt das gebrochene Handgelenk eng am Körper, während sie langsam auf ihn zuging und sich über ihn kniete, bis die Mündung der Waffe auf seiner Stirn lag. Nur eine winzige Veränderung des Drucks auf den Abzug trennte ihn von einem Loch in der Mitte seines Schädels, durch das seine Seele entweichen würde. Umrahmt von der schwarzen Wolle der Sturmhaube stachen ihre Augen in einem kalten Kobaltblau hervor.
Er konnte ihren Atem auf seinem Gesicht spüren. Er spürte das leichte Zittern des Laufs auf seiner Haut. Sie war nicht so kaltblütig, wie sie sich gab. Sie würde ihn töten, daran bestand kein Zweifel, aber sie war keine Mörderin. Sie betätigte den Abzug nicht gewissenlos, sie musste darüber nachdenken. Dieses Nachdenken konnte seine Chance sein, selbst mit der auf seine Stirn gerichteten Waffe.
Es war unmöglich, ihr die Pistole zu entreißen, bevor sie ihm eine Kugel in den Schädel jagen konnte, und es war genauso unmöglich, sich unter ihr herauszuwinden. Ronan schloss die Lider. Er stellte sie sich vor seinem inneren Auge vor und konzentrierte sich auf ihr gebrochenes Handgelenk. Er hatte nur eine einzige Chance, und er musste sie nutzen.
Er legte das Kinn auf die Brust, als ob er beten oder sich zusammenkauern würde. Es war egal, wofür sie es hielt, solange sie glaubte, dass er sich seinem Schicksal ergab.
Er ließ seinen Körper erschlaffen und akzeptierte die Unausweichlichkeit der Kugel.
Er spürte, wie sich ihr Atemrhythmus veränderte. Sie kämpfte mit den letzten Zweifeln, die sie davon abhielten, den Abzug zu drücken. Jetzt oder nie.
Ronan Frost ließ seinen Kopf nach oben schnellen. Die Waffe rutschte seitlich von seinem Kopf ab, und der Schuss ging in den Boden. Als sie durch den Rückschlag ein Stück nach hinten zuckte, setzte Ronan sein Leben auf die Vermutung, dass sie in ihrer Überraschung ihr verletztes Handgelenk ungeschützt ließ. Blitzschnell griff er danach und riss es erbarmungslos nach unten. Unter Qualen gab sie einen zweiten Schuss ab. Er traf die Wand. Ronan bog die Hand der Frau in einem unmöglichen Winkel zurück, die gebrochenen Knochen durchstießen die Haut. Die scharfkantigen Bruchstellen konnten ohne weiteres eine Arterie verletzen, wie er wusste. Das war der Unterschied zwischen ihnen –
er
hatte schon getötet.
Sie versuchte mit der Browning auf ihn zu zielen, doch Ronan rammte seinen freien Unterarm gegen ihren und schlug ihr damit die Waffe aus der Hand. Als die Pistole auf dem Boden aufkam, löste sich ein weiterer Schuss: die Kugel grub sich in die Wand neben seinem Kopf. Ronan warf sein ganzes Gewicht nach vorn und versuchte, die Frau aus dem Gleichgewicht zu bringen. Sie taumelte zurück und zog den verletzten Arm wieder eng an die Brust.
Er hechtete zu seiner Pistole.
Sie rannte zur Tür.
Ronan rutschte über den Boden, griff nach der Browning und rollte sich halb auf den Rücken. Ohne zu zielen drückte er ab. Der Schuss war viel zu hoch und hinterließ einen Krater im Rauputz an der Decke. Er hatte nicht damit gerechnet, etwas zu treffen.
Die Frau schnappte sich eine der Trockenhauben, hielt sie am Stiel wie eine Lanze und rannte damit auf die Schaufensterscheibe zu. Sie zerbrach unter dem Keramikkopf des Trockners. Die Frau zögerte keine Sekunde, sie warf sich mit dem Kopf voran durch das Fenster, während sich die Glasscherben wie scharfe Zähne aus dem Rahmen lösten und nach ihr schnappten. Sie kam mit dem rechten Knie und der Schulter auf dem Gehsteig auf, rollte sich über die Glasscherben ab und kam mit mehreren blutigen Schnitten am Körper wieder auf die Füße. Sie warf einen kurzen Blick über die Schulter zu ihm zurück, dann sprintete sie über die Straße auf die Menschenmenge zu, die aus der U-Bahn-Station strömte.
Auf dem Weg durch die Scherben fragte Ronan Lethe: „Kannst du sie sehen?“
„Klar kann ich das“, erwiderte Lethe in einem Ton, als ob er mit einem technisch minderbemittelten Kind sprechen würde. „Moment – wollen Sie damit sagen, dass sie gerade von einem Mädchen verdroschen worden sind?“
„Weniger Gequatsche. Sag mir einfach, wo sie ist.“
Ronan duckte sich unter den Resten der Schaufensterscheibe hindurch. Er wurde von den Passanten angestarrt, als er auf die Straße kletterte, und er spürte förmlich, wie sich langsam die Decke
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