Silber
Er hatte sie überrascht, und sie war geflohen, bevor sie finden konnte, wonach sie gesucht hatte. Das wiederum bedeutete, dass dieses Objekt sich immer noch in der Wohnung befand und darauf wartete, gefunden zu werden.
Er kaute auf seiner Oberlippe herum und holte tief Luft.
Ronan ging langsam weiter. Er ertastete sich mit den Füßen vorsichtig den Weg, er ließ sie über die Steine gleiten, bis er die Sicherheit der nächsten hölzernen Schwelle fand. Schritt für Schritt schob er sich tiefer in den Tunnel. Er warf einen kurzen Blick über die Schulter zurück und vergewisserte sich, dass er es noch zurück bis zum Licht schaffen konnte, wenn die Haut an seinen Unterarmen zu prickeln begann. Die Luft um ihn herum erzitterte kaum merklich.
Dann spürte er es: das verräterische Vibrieren der Schienen, das die Ankunft des nächsten Zuges ankündigte. Einen Augenblick später brach das Licht hinter der Kurve hervor. Er sah den Umriss der Frau im Lichtkegel der Zugscheinwerfer. Sie stand keine fünf Meter vor ihm und warf schnelle Blicke um sich, bis sie etwas zu entdecken schien. Dann rannte sie direkt auf die heranrasende U-Bahn zu.
In diesem Moment wurde Ronan klar, dass er sich den Schuss sparen konnte. Der Zug würde ihm die Drecksarbeit abnehmen, aber außer einer blutigen Masse auf den Gleisen würde nichts für die Untersuchung übrig bleiben. Und selbst die würde er nur vornehmen können, wenn er es aus dem Tunnel schaffte, bevor der Zug ihn feinsäuberlich in zwei Hälften zerlegte. Er schrie der Frau hinterher. Es waren keine Worte, es war nur ein rauer, urtümlicher Schrei.
In seiner Kabine hängte sich der Fahrer an das Horn. Im Tunnel war die Kakophonie der Geräusche ohrenbetäubend: das Quietschen der Bremsen, das Kreischen von Stahl auf Eisen, als die Räder blockierten und weiterrutschten, das Heulen des Signalhorns, das der Fahrer immer wieder und wieder betätigte, das unerträgliche Gebell aus den Lautsprechern, das ihnen befahl, die Gleise zu verlassen, und die Schreie von Ronan Frost, der zusah, wie die Frau auf die U-Bahn zurannte, was das Zeug hielt.
Und dann war sie verschwunden.
Einfach so. In einem Augenblick war sie da, im nächsten nicht mehr.
Aber es gab keine blutige Explosion mit kleinen Fetzen, keinen Aufprall, keine Blutspritzer auf den Scheinwerfern und keine Leiche auf den Gleisen.
Verblüfft blieb er eine Sekunde zu lang auf der Stelle stehen.
Sein nächster Atemzug erstarb in den Lungen.
Ronan realisierte, dass er nicht mehr genug Zeit hatte, den Bahnsteig zu erreichen, ohne dass der Zug ihm in den Rücken knallen würde. Ihm war jetzt auch klar, wie die Frau verschwunden war: Sie hatte sich in einen der Wartungsschächte des Tunnels geflüchtet.
Er blickte hektisch nach links und rechts. Der ganze Tunnel war von den auf ihn zurasenden Scheinwerfern taghell erleuchtet. Er sah keine Möglichkeit, sich zu verstecken.
So viel zum Gott der irischen Idioten
, schoss ihm durch den Kopf. Er hatte mit vielen Bildern gerechnet, die im Moment seines Todes an ihm vorbeiziehen würden – schöne Frauen, die er geliebt und verloren hatte, Freunde, die er verraten hatte, Leben, die er genommen oder gerettet hatte – doch dass er stattdessen als letzten Gedanken eine Fantasie-Gottheit verfluchen würde, damit hatte er beim besten Willen nicht gerechnet.
Er überlegte, ob er sich flach auf den Boden zwischen die Schienen werfen und beten sollte, dass kein Schlepphaken an der Unterseite des Zuges hing, der ihn wie einen Fisch aufschlitzen und die ganze Strecke zurück ins Stadtzentrum schleifen würde.
Die Scheinwerfer waren jetzt riesig, sie füllten den gesamten Tunnel aus. Der Tunnel selbst war nicht breit genug, um sich einfach an die Wand zu drücken. Er blickte nach unten auf die Räder, dann auf die Gleise und die gebogene Wand der Kurve – und erkannte plötzlich seine einzige Chance. Wieder ertönte das Horn. Trotz der kreischenden Bremsen wurde der Zug nicht ansatzweise langsam genug, um sein Leben zu verschonen. Er hatte nur wenige Augenblicke, um nachzudenken.
Bewegung.
Eine Chance.
Alles hing von der Breite der Gleise und dem Luftsog des Zuges ab. Alles, was er tun konnte, war beten, dass es einen Zentimeter Spielraum gab.
Ronan Frost warf sich zur Seite, schlug auf dem Boden auf und rollte sich über die rechte Schulter in die schmale Lücke zwischen der Eisenschiene und der Betonwand. Er drückte den Körper an die Wand und presste sein Gesicht an den kalten
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