Silber
Schaufenster des Friseursalons versammelt. Er musste wieder in Fishers Wohnung gelangen, aber so, wie er aussah, konnte er kaum die Vordertür benutzen, und auch in der Seitengasse wimmelte es schon von Uniformierten.
Ein paar Elstern saßen auf der Regenrinne des Friseursalons. Er zählte sie mit dem alten englischen Kinderreim im Kopf:
One for sorrow, two for joy, three for a girl, four for a boy, five for silver
.
Er ging zwei Straßen weiter, zog seine Lederjacke aus und stopfte sie hinter einen Müllcontainer. Er konnte sie später wieder holen. Einer der Passanten würde sich bestimmt an den Motorradfahrer in Lederkleidung erinnern, der die Frau durch das zerbrochene Fenster verfolgt hatte. Doch niemand würde sich an einen grauhaarigen Kerl im Designer-Anzug erinnern.
Er zog ein Taschentuch aus der Innentasche des Jacketts, faltete es zusammen und tupfte damit sein Gesicht ab, um es grob vom Blut zu reinigen, und warf es dann in einen Abfalleimer. Es konnte keine Rede davon sein, dass er sauber war, aber er hatte sein Aussehen soweit verändert, dass es einem flüchtigen Blick standhalten würde.
Es war eine Frage der augenfälligen Details, denn daran erinnerte sich das menschliche Gehirn am besten. Es registrierte die Lederjacke und würde mit Sicherheit den Mann mit der Waffe in der Hand zu einem bösen Dämon machen. Selbst im besten Fall waren Zeugenaussagen oft unzuverlässig. Ohne die Motorradjacke und etwas zurechtgemacht würde ihn niemand als den Dämon identifizieren.
„Nun denn“, sagte er zu sich selbst, „Zeit, die Theorie in der Praxis zu erproben.“
Er betrat die Gasse hinter Fishers Apartment.
Zwei Polizisten standen an der Gartenpforte des Friseursalons Wache.
Er grüßte sie, als er an ihnen vorbeiging. Das war Teil des Tricks: Man musste die Eier haben, so zu tun, als ob man das Recht hätte, sich hier aufzuhalten – egal, um welchen Ort es sich dabei handelte. Er durfte ihnen nicht den Rücken zukehren. Er wollte auf jeden Fall vermeiden, dass sie die Blutflecken dort entdeckten. Der ältere der beiden Polizisten hob sein Funkgerät und sprach etwas hinein. Er zeigte für Ronans Geschmack ein bisschen zu viel Interesse an ihm. Er wollte nicht, dass er noch genauer hinsah.
Ronan bewegte sich mit ruhigen Schritten weiter; er widerstand der Versuchung, schneller zu gehen. Er versuchte, den Polizist mit der Kraft seines Willens dazu zu bewegen, irgendwo woanders hinzusehen, aber er spürte weiterhin seinen Blick auf sich haften.
Tu einfach so, als ob du hierher gehörst
, sagte er zu sich selbst.
Sei ganz natürlich. Du wohnst hier. Sie haben keinen Grund, etwas anderes zu denken. Geh einfach zum Tor und mach es auf
. Er war froh, dass er sich vorhin die Zeit genommen hatte, die grüne Gartentür zu öffnen. Jetzt konnte er einfach die Klinke drücken, sie aufschieben und hindurchtreten. Das war deutlich unauffälliger, als sich über die mit Scherben besetzte Mauer zu schwingen.
Im Innern der Wohnung angekommen, fand er in weniger als zwei Minuten die Spur, nach der er gesucht hatte.
Neben dem Computer im Arbeitszimmer stand ein gerahmtes Foto von Fisher mit seinen beiden Kindern, und im Rahmen steckte ein Schnappschuss aus einer Fotokabine. Die Frau auf diesem Bild war eindeutig Catherine Meadows. Sie saß lachend neben Sebastian Fisher und hatte ihren Kopf an seinen gelehnt; das Bild zeigte, dass die beiden ineinander verliebt waren.
Was kann einen Mann dazu bringen, sich selbst bei lebendigem Leib zu verbrennen?
, fragte er sich wieder, und diesmal wusste er die Antwort: Er wollte jemanden beschützen, den er liebte.
Sebastian Fisher hatte drei Menschen geliebt. Einer davon hatte sich zusammen mit ihm verbrannt – zwar an einem anderen Ort, aber zu exakt derselben Zeit. Die beiden anderen waren verschwunden.
Er rief wieder bei Lethe an. „Ich habe das Druckmittel gefunden. Jemand hat Fishers Kinder entführt.“ Anhand des Fotos und der Spielzeuge in ihrem Zimmer stellte er die fundierte Vermutung an, dass sie sechs und acht Jahre alt waren.
„Scheiße“, sagte Jude Lethe.
„Er hatte eine Beziehung mit Catherine Meadows, also wäre es möglich, dass Fishers Kinder auch benutzt wurden, um sie zu erpressen. Es gibt in der Wohnung einige Anzeichen dafür, dass die beiden zusammengelebt haben. Und ich meine damit nicht nur ein Fach mit Unterwäsche – ihr gehörten die halbe Ankleide, die Hälfte der Schubladen und ein ganzer Badezimmerschrank voll
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