Silber
grummelte er, während er versuchte, unter dem Gewicht des Rucksacks mit ihr Schritt zu halten. Sie lief zu schnell für ihn, und er hasste es, mit einem Hinterkopf sprechen zu müssen – selbst wenn es der wunderschöne Hinterkopf von Sarah war. „Wir werden es überleben, wenn wir nicht vor Mittag beim Konzentrationslager sind. Wir können doch auch die nächste U-Bahn nehmen“, sagte er kopfschüttelnd. „Ich habe Hunger, ich bin müde, und wir sind verdammt nochmal im Urlaub!“, rief er. Er konnte einfach nicht anders.
„Scher dich zum Teufel“, rief ihm seine seit sieben Tagen angetraute Frau über die Schulter zu.
Einige der Berliner warfen ihnen fragende Blicke zu; zweifellos wunderten sie sich über die Touristen, die nicht genug Manieren besaßen, um ihre Zwistigkeiten zu Hause auszutragen.
„Sarah!“, rief er ihr nach, aber sie ging nur noch schneller. „Oh, Herrgott nochmal, Frau!“
Sie verlangsamte ihren Schritt kein bisschen. Er zog die Schultergurte seines Rucksacks fester und versuchte, sich zwischen den Städtern durchzuschieben, die sich vor der Treppe zur U-Bahn stauten.
„Sarah!“, rief er über die Köpfe der Berliner hinweg. Sie ignorierte ihn.
Er drängelte sich zu einem der Ticketautomaten durch, angelte ein paar Münzen aus der Hosentasche und warf sie in den Schlitz. Es schien ewig zu dauern, bis das Ticket ausgedruckt war. Dann kämpfte er sich seinen Weg die Treppe hinunter. Er konnte Sarah nirgends mehr sehen, aber er wusste ja, wohin sie wollte. Er warf einen Blick auf die Richtungsschilder und versuchte herauszufinden, von welchem Bahnsteig aus er zur Stadtmitte fahren konnte. Er lief Sarah nach auf den Bahnsteig und kam gerade dort an, als sich die Türen der U-Bahn schlossen.
Er winkte dem Fahrer hektisch zu und rannte, so schnell der Rucksack es zuließ. Dieser schlug ihm beständig gegen den Rücken und drohte, ihn umzuwerfen. Sarah saß im vierten Wagen, er sah, wie sie ihn durch das Fenster anblickte. Sie weinte. Sie sah so schön und gleichzeitig so traurig aus mit den Tränen, die über ihre Wangen liefen. Ihre Hochzeit lag erst sieben Tage zurück, und es tat ihm weh, sie weinen zu sehen. Er wünschte, dass er einfach den Mund gehalten und sich gefügt hätte, anstatt zu jammern, dass er einen Kaffee und einen blöden Muffin wollte. Er wusste, wie wichtig es ihr war, das alles nach Plan lief. Sie brauchte eine gewisse Ordnung, und er musste sich deswegen nicht jedes Mal wie ein kompletter Idiot aufführen.
Als der Zug die Station verließ, versuchte er ihr mit Gesten zu verstehen zu geben, dass es ihm Leid tat. Sie schaute weg. Es war nicht schlimm, dass sie wütend war – damit konnte er leben, ihr Zorn würde wieder verrauchen – aber es war schlimm, wie traurig sie aussah, als sie so alleine dasaß.
Er versuchte, sie auf dem Handy anzurufen, aber er hatte keinen Empfang.
Als die U-Bahn die Station verlassen hatte, ließ er resigniert die Schultern hängen und befreite sich von dem Rucksack. Der nächste Zug traf erst in sieben Minuten ein. Er schleifte den Rucksack über den Boden zur Wand und ließ sich darauf niedersinken; er benutzte ihn als Rückenlehne. Er hätte gerne eine Zigarette geraucht, aber das war in der ganzen U-Bahn-Station verboten. Deshalb ergab er sich still in sein Leid. Sobald er in der nächsten U-Bahn saß, würde es ihm besser gehen, dann würde er Sarah suchen und sich wieder mit ihr versöhnen.
Schon nach kurzer Zeit füllte sich der Bahnsteig wieder mit Menschen.
Eine Frau setzte sich neben ihn auf den Boden und fragte ihn, ob er seinen Frieden mit Gott gemacht habe. Er blickte sie überrascht an. Sie sah nicht wie eine verrückte U-Bahn-Missionarin aus. Sie sah sogar ganz niedlich aus, wie ein japanisches Schulmädchen, mit ihren Heidi-Zöpfen und den knielangen, weißen Baumwollstrümpfen. Sie hätte dreizehn, aber auch dreiundzwanzig sein können; hinter dem hellblauen Lidschatten und dem violetten Lipgloss war ihr Alter nur schwer zu schätzen. Sie trug eine Umhängetasche über der Schulter, auf die eine stilisierte japanische Comicfigur aufgedruckt war. Er konnte sich nicht mehr erinnern, wie diese Figuren hießen, aber das war auch nicht wichtig. Sie war eindeutig die merkwürdigste Missionarin, die er jemals gesehen hatte.
Sie griff in ihre Tasche, um etwas daraus hervorzuholen. Er nahm an, dass sie ihm etwas aus der Bibel vorlesen wollte.
Das war nicht ihre Absicht.
Sie zog eine kleine Thermoskanne aus
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