Silber
Aluminium hervor und öffnete den Deckel. Dann drehte sie sie auf den Kopf. Eine kleine Menge Flüssigkeit tropfte heraus. Allerdings handelte es sich dabei nicht um Wasser, sondern um flüssiges Sarin. Dampf stieg von der kleinen Pfütze am Boden auf und kräuselte sich in der Luft, fast wie Rauch. Die Kanne hatte das Gas in ihrem Innern gerade warm genug gehalten, damit es seinen Zustand beibehielt. Nur die wenigen Tropfen auf dem Boden waren so kalt geworden, dass die Substanz kondensiert war. Im flüssigen Zustand hätte man mit dieser Menge Sarin vielleicht ein Dutzend Menschen töten können, wenn man sie direktem Kontakt damit aussetzte. Im gasförmigen Zustand jedoch war jeder dem Tod geweiht, der es einatmete. In einer vollen U-Bahn-Station mochten das mehrere tausende Menschen sein.
„Ihre Nase wird gleich anfangen zu laufen. Sie werden ein Drückgefühl in der Brust spüren, und sie werden sich fühlen, als ob ihre Haut zu eng für den Körper werden würde. Danach werden Sie Ihr Sehvermögen verlieren. Haben Sie keine Angst, es wird alles sehr schnell gehen“, sagte sie mit einer so beruhigenden, mitfühlsamen und psychotischen Stimme, dass er erschrak. Was sie gesagt hatte, stimmte: er begann zu spüren, wie ihm der Rotz aus der Nase lief. „Sie werden fast nicht mitbekommen, was passiert. Nur ein paar Augenblicke des Schmerzes, dann ist alles vorbei. Ich werde mit Ihnen sterben. Möchten Sie vielleicht, dass ich Ihre Hand halte?“
Er starrte sie an. Sie sah immer noch nicht aus wie eine geisteskranke Fanatikerin. Sie streckte ihre Hand aus, um ihr Angebot zu unterstreichen. Er wich vor ihr zurück.
„Was haben Sie mit mir gemacht?“, fragte er. Das Sprechen bereitete ihm Schmerzen. Ein Kribbeln ging durch seinen ganzen Körper, es kroch über seine Haut und bis in die Knochen hinab. Sie hatte Recht, es ging wirklich schnell. Schon lief ein schmerzhaftes Zittern durch seinen Körper. Er spürte, wie die Galle in ihm aufstieg und beugte sich zur Seite, weil er sicher war, sich übergeben zu müssen. „Was haben Sie mit mir gemacht?“, wiederholte er verzweifelt.
Sie ignorierte die Frage. „In ein paar Sekunden wird Ihnen das Atmen schwer fallen. Es wird sich anfühlen, als ob ihr Körper einfach abgeschaltet wird. Sie werden die Kontrolle über ihre Muskulatur verlieren.“ Auch sie atmete jetzt schwer, sie keuchte zwischen den einzelnen Worten. „Sie werden sich übergeben und kurz darauf in die Hose machen. Sie können nichts dagegen unternehmen, denn es ist der Tod. Jeder Nerv in Ihrem Körper wird brennen, und schließlich wird ihr Fleisch nicht mehr standhalten können. Sie werden zucken und sich unter Krämpfen winden, aber es wird nur ein kurzer Anfall sein. Sie werden erblinden und dann ersticken. Sie sind machtlos dagegen. Sie sind bereits tot. Wir alle sind tot. Jeder hier unten ist tot.“
Er blickte den Bahnsteig hinunter. Die Menschen waren dunkle, verschwommene Flecken, die sich an die Wände lehnten oder sich gegenseitig stützten. Er konnte hören, wie sie keuchten und husteten. Eine Frau schrie auf Deutsch: „Ich kann nichts sehen! Oh Gott, ich bin blind!“
Er verstand nur das letzte Wort, doch mehr war nicht nötig, um zu begreifen, was auf dem Bahnsteig vor sich ging.
Das Gift hatte nur wenige Sekunden gebraucht, um sich auszubreiten.
Er klammerte sich mit einer Hand an der Frau neben ihm fest. Er versuchte, sie zu sich heranzuziehen. Seine Lippen zuckten, konnten aber keine Worte mehr hervorbringen.
Die Welt um ihn herum verlor alle Formen, die verschwommenen Umrisse der Verdammten zerliefen vor seinen Augen, bis er nur noch Schwärze sah.
Er hörte, wie die nächste U-Bahn in die Station einfuhr; er hörte, wie sich die Türen zischend öffneten und wie die Menschen schrien, als die Vergifteten auf sie zutorkelten, als ob sie sich mit der U-Bahn in Sicherheit bringen könnten. Doch er konnte weder die Gesichter der zum Tode Verurteilten sehen, die gegen die Scheiben gepresst waren, noch konnte er sehen, wie sie sich mit verkrampften Händen über den Bahnsteig zogen, wie sie zitterten und sich mühten, noch einen weiteren, kostbaren Zentimeter voranzukommen.
Es war schon mehr als ein halbes Jahrhundert her, dass ein Zug durch Berlin gefahren war, der so viele verlorene Seelen transportiert hatte. Die Passagiere in diesem Zug waren ebenfalls tot, und sie waren noch genauso unwissend.
Wieder schüttelte ein Krampf seinen Körper, er kippte zur Seite und schlug
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