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Silber

Titel: Silber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steven Savile
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Fußmatte. Er überflog die Datumsangaben und konnte acht Tageszeitungen weit zurückzählen. Also waren die Bewohner des kleinen Vierzimmerhauses im falschen Teil der Stadt vor neun Tagen entführt worden. Dieser Ort fühlte sich anders an als die anderen, und das lag nicht nur an dem Gestank und der Dunkelheit. Er ließ das Licht ausgeschaltet und ging langsam weiter. Er tastete sich mit den Fingerspitzen an der Wand entlang, um nicht über die Möbel zu stolpern. Dann fand seine Hand das Treppengeländer, und er stieg vorsichtig die Stufen zum oberen Stockwerk hinauf. Im Haus war es absolut still. Je weiter er nach oben kam, desto schlimmer wurde der Gestank. Durch ein Fenster im oberen Stockwerk strömte silbernes Mondlicht herein, das einen schimmernden Strahl durch die Schatten des dunklen Hauses warf. In diesem Licht sah er das Wirbelmuster auf der Tapete, die noch aus den Siebzigern stammen musste. Sie fühlte sich rau und schwer unter seinen Fingern an.
    Er hörte seinen eigenen Atem und bemerkte, dass er mit jeder Stufe schneller und flacher Luft holte. Er wusste, was ihn dort oben erwartete. Aber das hieß nicht, dass er sich einfach umdrehen und weiter zu Haus Nummer zehn gehen konnte. Im Gegenteil, dieses Wissen verpflichtete ihn dazu, dass er es sich aus der Nähe ansah. Denn es war schließlich genau das, was er suchte: ein Beweis.
    Auf der obersten Stufe hatte er das Gefühl, dass hier etwas nicht stimmte. Menschen neigten dazu, ihre Besitztümer einfach und funktional zu arrangieren, das hieß, Möbel wurden fast immer nach ähnlichen Mustern aufgestellt. Er hätte mit verbundenen Augen in vielen Wohnungen genau sagen können, wie die Einrichtungsgegenstände platziert waren. Der Flur im ersten Stock passte nicht in dieses Schema. Er wirkte unausgewogen.
    Es dauerte einen Moment, bis ihm auffiel, warum. Der Stuhl, der eigentlich in der Nische zwischen der Einbaukommode und dem Treppengeländer hätte stehen sollen, war verrückt worden und stand nun vor der Tür zum Badezimmer. Der Rücken des Stuhls war ihm zugewandt. Er versuchte sich den Kampf vorzustellen, der den Stuhl an diese Position gebracht hatte. An der gegenüberliegenden Wand konnte er einen breiten, dunklen Schatten hinter der Wäschetruhe sehen, sie stand also nicht ganz an der Wand. Vor seinem geistigen Auge sah Frost jemanden auf dem Rücken liegen, der wild um sich schlug, während er zur Treppe gezerrt wurde. Die Person hielt sich am Stuhlbein fest und zog so den Stuhl ein Stück mit sich. Sie trat mit dem rechten Bein aus, versuchte, sich zu befreien und verlor dabei den Griff um den Stuhl. Vielleicht hatte es sich nicht haargenau so ereignet, aber er wusste, dass es der Wahrheit nahe genug kam, um keinen großen Unterschied zu machen.
    Die Dielenbretter knarrten unter seinem Gewicht.
    Er ging auf die erste von drei Türen zu, die in das kleinere der Schlafzimmer führte. Im Mondlicht konnte er nicht erkennen, in welcher Farbe es gestrichen war, aber ein Mobile mit Elefanten, Tukanen und anderen exotischen Tieren hing über einer Wiege, und der Fußboden war mit Teddybären und anderen Plüschtieren übersät. Die Wiege war leer. Das war wohl der einzige Moment der Erleichterung, der ihm gegönnt war, bis er das Haus wieder verlassen konnte, dachte er. Er kannte die Statistiken nur zu gut: in neunzig Prozent aller Fälle starben die Entführungsopfer innerhalb von sechsunddreißig Stunden nach ihrer Gefangennahme. Auch in diesem Haus hatte die Geschichte kein glückliches Ende gefunden.
    Die Leiche der Frau lag auf dem Bett im nächsten Zimmer. Das Laken hatte sich von ihrem Blut dunkel verfärbt. Kleine schwarze Flecken krochen über ihr Gesicht, ihren Bauch und ihre Beine – es waren Fliegen. Wahrscheinlich hatten sie schon begonnen, ihre Eier im Körper der Frau abzulegen. In ein oder zwei Tagen würde ihr Fleisch von Maden wimmeln.
    Frost hielt sich die Hand vor Mund und Nase und betrat den Raum. Auf so kurze Entfernung trieb ihm der Leichengeruch die Tränen in die Augen.
    Sie war nicht einfach ermordet worden, man hatte sie regelrecht ausgeweidet. Zwanzig, dreißig, vierzig Schnittverletzungen – er konnte nicht erkennen, wo die eine aufhörte und die nächste anfing. Die Schnitte waren mehrere Male überkreuzt. Frost mochte sich gar nicht vorstellen, welche Raserei diesen Mörder getrieben hatte. Niemand hatte es verdient, auf so bestialische Weise getötet zu werden. Er stand reglos da und starrte auf die tote Frau, die

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