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Silber

Titel: Silber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steven Savile
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wimmeln. Und einer von
denen
würde bestimmt nach oben sehen. Ihnen würde auffallen, dass die Luke nicht ganz geschlossen war, und er konnte nichts daran ändern. Er versuchte, nachzudenken. Seine Fingerabdrücke waren überall im Haus, aber er hatte weder die Frau, noch das Bett berührt. Allerdings hatte er das Fenster, ihr Telefon und den Türknauf angefasst. Hatte er sich am Geländer festgehalten? Hatte er unten etwas berührt? Er verfluchte sich selbst für seine Dummheit.
    „Welche Bestie würde einer Frau so etwas antun?“
    Das war eine verdammt gute Frage.
    Frost hatte genug Zeit mit Killern verbracht, um zu wissen, dass dieses Gemetzel nur das Produkt von brennendem Hass sein konnte. Es handelte sich hier nicht um einen schlichten Mord, das Messer hatte eine sehr persönliche Angelegenheit daraus gemacht. Es war schwer genug, ein- oder zweimal zuzustechen, wenn man dabei seinem Opfer in die Augen blicken musste, das sich verzweifelt zu wehren versuchte – aber dreißig- oder vierzigmal? Und die Frau aufzuschlitzen, als wäre sie ein medizinisches Exponat? Das hatte nichts mehr mit einem Mord zu tun, es war blinde Raserei.
    „Vince“, sagte eine der Stimmen unter ihm. „Ich glaube, das solltest du dir ansehen.“
    Sie bewegten sich aus seinem Sichtfeld, als sie ins Kinderzimmer gingen.
    Frost leckte sich über die Lippen.
    Die Dunkelheit über ihm war erfüllt vom Geräusch seines eigenen Atems. In seinen Ohren klang es so laut, dass er fast nicht begreifen konnte, warum die Polizisten es nicht hörten.
    „Jetzt wäre ein verdammt guter Zeitpunkt für dein Ablenkungsmanöver“, krächzte Frost in sein Headset. Die Worte klangen fast wie ein Gebet.
    Und Lethe erhörte ihn.

15
IN DIESEM GARTEN
    Damals – Das Zeugnis des Menachem ben Ja’ir
    Der Junge blickte mit Bewunderung in den Augen zu seinem Vater auf.
    Ja’ir selbst hatte nie die Möglichkeit gehabt, so zu seinem Vater aufzuschauen. Wie fühlte es sich wohl an, in das Gesicht zu sehen, das man eines Tages selbst haben würde? Es war ein einfaches Recht, das jedem Sohn zustand. Doch Ja’ir hatte seinen Vater nie kennengelernt. Er war ermordet worden, bevor er zur Welt kam. Dieser Garten war der einzige Ort, an dem er sich ihm nahe fühlte. Manchmal kam Ja’ir nachts hierher und stellte sich vor, dass das Seufzen des Windes in den Bäumen die Stimme seines Vaters war. Seine Mutter hatte ihn oft gebeten, nicht hierher zu kommen, und die Vergangenheit ruhen zu lassen. Es sei ein Ort der Geister, hatte sie gesagt. Er wusste nicht, ob sie damit den Garten oder die Vergangenheit gemeint hatte, oder vielleicht beides. Es spielte keine Rolle mehr, mittlerweile war sie selbst ein Geist geworden. Als er einen der scharfkantigen Steine aufhob, fragte er sich, ob es wohl derjenige war, der seinen Vater getötet hatte. Er strich mit dem Daumen über die gezackte Kante. Mehr als einmal hatte er einen der Steine hier in die Faust genommen und sich an die eigene Schläfe geschlagen, weil er denselben Schmerz spüren wollte, den Judas gespürt hatte. Doch das war unmöglich. Alle Steine der Welt hätten nicht ausgereicht, um den Schmerz seines Vaters nachfühlen zu können, denn es war kein körperlicher Schmerz gewesen. Ja’ir wusste das besser als jeder andere.
    Vater und Sohn gingen Hand in Hand unter den Blättern der Olivenbäume hindurch nach Gethsemani.
    Der Garten stand in voller Blüte. Überall um sie herum tobten die Farben, das Spektrum reichte von unscheinbar bis grell. Er nahm einen tiefen Atemzug und führte Menachem durch den Garten zu einem kleinen Schrein aus weißen Steinen. Sie waren von allen erdenklichen Gerüchen umgeben. Das Gras war mit goldenen Flecken gesprenkelt, wo die Sonnenstrahlen durch das Blätterdach fielen, doch trotz der Hitze zitterte der Vater. Der Schrein hatte schon bessere Tage gesehen, das Antlitz des Heiligen war von Stockflecken überzogen. Ein paar bescheidene Opfergaben lagen um den Altar herum auf der Erde: eine kleine Figur aus Olivenzweigen, die mit langen Grashalmen zusammengebunden war, ein Nagel, ein Stück Schiefer, in das ein Kreuz eingeritzt war, und schließlich eine Münze. Das war seine eigene Opfergabe, eine Erinnerung an den zweiten Mann in der Tragödie des Gartens. Jeder erinnerte sich an den Verrat, aber niemand erinnerte sich an das Opfer. Der Sohn verstärkte den Druck seiner Hand, als ob er das Unbehagen des Vaters gespürt hätte. Die Geste drückte eine tief empfundene Zuneigung aus, doch

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