Silber
sie reichte nicht aus, um die Seele des Mannes zu retten.
Er strubbelte dem Jungen durch die Haare. Es war einer der seltenen Momente, in denen er seine Empfindungen offen zeigte. Er wusste nicht, wie man ein guter Vater war. Das lag nicht daran, dass seine Mutter, Maria, ihn nicht geliebt hätte. Sie hatte ihn mit ihrer Liebe geradezu überschüttet. Doch er trug das Gesicht seines Vaters. Jeden Tag war seine Ähnlichkeit zu dem Mann, den sie geliebt hatte, größer geworden, und es hatte sie immer nachdrücklicher daran erinnert, was sie verloren hatte. Er war zu einem lebenden Geist geworden. Allein, indem er ihr nahe war, wenn er auf ihrem Schoß saß und sie anlächelte, mit demselben Lächeln, das sein Vater gehabt hatte, brachte er all ihre Erinnerungen an ihn zurück. Er war ihre größte Freude und ihr größter Kummer. Wie hätte das Band zwischen ihnen davon unberührt bleiben sollen?
„Mach das Gleiche wie ich, Junge“, sagte er, dann kniete er sich zu Boden und senkte den Kopf in einem stillen Gebet. So verharrte er eine lange Zeit.
Ein Beobachter hätte wahrscheinlich geglaubt, dass sie für den verratenen Messias beteten, wie es so viele andere taten, die in diesen Garten pilgerten. Doch das taten sie nicht. Ja’ir gedachte des Vaters, den er nie gekannt hatte, und Menachem genoss die Gegenwart seines eigenen Vaters. Es war die einfachste aller Freuden. „Die anderen werden vergessen, doch ich werde mich erinnern“, versprach Ja’ir den Geistern des Gartens. „Andere werden hassen, doch ich werde lieben.“ Die Worte waren mehr als nur ein Versprechen, sie waren das Evangelium eines Toten. „Andere mögen blind sein, doch ich werde sehen.“ Er blickte auf. Seine Augen waren rot gerändert, aber er weinte keine Tränen. Er verstand nicht, wie man glauben konnte, dass die Liebe hier zu Ende sein sollte.
Dann sah er seinen Sohn an, und er spürte Traurigkeit in sich aufsteigen. Der Junge war so schnell herangewachsen. Er war nun alt genug, um die Wahrheit zu erfahren; aus diesem Grund hatte er ihn hierher gebracht. „Komm zu mir“, sagte er, und breitete die Arme weit aus. Der Junge stürmte los und warf sich seinem Vater an den Hals. Die Umarmung schien endlos zu dauern, bis der Vater sich schließlich daraus löste. „Es ist an der Zeit, dir zu erzählen, was hier geschehen ist.“
Ja’ir griff in die Tasche seines staubigen Gewandes und zog die abgenutzte Lederbörse daraus hervor, die seine Mutter ihm geschenkt hatte. Er war genau so alt gewesen wie Menachem jetzt, als sie mit ihm hierher gekommen war, um ihm von seinem Vater zu erzählen. Bis zu diesem Tag hatte sie nicht ein einziges Mal über ihn gesprochen. Er spürte das Gewicht des Silbers in seiner Hand. Die Münzen hatten als Kind eine starke Faszination auf ihn ausgeübt; mittlerweile überkam ihn ein merkwürdig tröstliches Gefühl, wenn er sie in der Hand hielt. Er legte den Lederbeutel zwischen sich und Menachem auf die Erde. Soweit er sich erinnern konnte, saßen sie an derselben Stelle wie er und seine Mutter damals, vielleicht sogar unter demselben Baum. Das wäre ganz in Marias Sinn gewesen. Symmetrien, symbolische Handlungen und Kreise, die sich schlossen, hatten ihr immer gut gefallen.
„An diesem Ort hier ist mein Vater gestorben. Zwei Mal.“
„Das verstehe ich nicht“, sagte der Junge.
Wie sollte er auch? dachte Ja’ir und suchte nach den richtigen Worten, um es ihm zu erklären. „Er ist einmal im Geist gestorben, und dann noch einmal in Fleisch und Blut. Die Leute sprechen oft von der Wiederauferstehung von Jesus Christus, sie verehren den Mann, der zweimal gelebt hat, doch sie vergessen dabei den Mann, der zweimal gestorben ist: meinen Vater. Erst haben sie seine Seele gebrochen, indem sie ihn zwangen, ein Versprechen einzuhalten. Und dann, als er nur noch eine leere Hülle war, haben sie diese Hülle mit Steinen zerschmettert. Wir sind nur wenige, doch wir erinnern uns. Mein Vater hat das Werk Sophias verrichtet. Weißt du, was das bedeutet?“
Der Junge schüttelte den Kopf.
„Sophia ist die Göttliche Vorsehung, die Weisheit Gottes. Wenn ich sage, dass Judas Iskariot das Werk Sophias verrichtet hat, dann meine ich damit, dass sein Handeln der Göttlichen Vorsehung gedient hat.“
„Er hat den Willen Gottes ausgeführt?“, fragte der Junge.
„Jawohl. Denk an die Geschichte, die du kennst: der Messias am Kreuz, die Wiederauferstehung – ohne den Verrat deines Großvaters hätte es keine
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