Silber
Treueste von ihnen war. Und jetzt nennen sie ihn einen Verräter.“ Ja’ir schloss die Augen. Der wirkliche Verrat brannte immer noch frisch in ihm.
„Er stand kurz davor, Vater zu werden, aber für seinen Freund hat er die Möglichkeit aufgegeben, mich jemals zu Gesicht zu bekommen.“ Er blickte seinen Sohn an und versuchte, sich selbst an der Stelle seines Vaters vorzustellen. Alle Entscheidungen, die er bisher in seinem Leben getroffen hatte, verblassten neben dieser einen wichtigen Entscheidung, die Judas in diesem Garten gefällt hatte. Er hätte einfach mit Maria fliehen können, um ein neues Leben zu beginnen und sich seiner Familie zu widmen. Wieder stieg das altbekannte Gefühl der Verbitterung in ihm auf. „Ich kann mir nicht vorstellen, dich nie kennengelernt zu haben“, sagte Ja’ir zu Menachem, und er war froh, dass ihm wenigstens diese Qual erspart geblieben war.
Er sammelte die Silbermünzen auf und übergab die Lederbörse seinem Sohn.
„Sie gehören jetzt dir. Betrachte sie als die letzte Erinnerung an das Opfer deines Großvaters. Wir dürfen die Wahrheit niemals vergessen. Soviel schulden wir ihm, nicht wahr?“
„Ich werde es niemals vergessen“, versprach Menachem.
16
DIE HÜTTE BRENNT
Jetzt
Die erste Sirene heulte fast augenblicklich los.
Die zweite und die dritte folgten nur eine Sekunde später. In weniger als fünf Sekunden schrillten sämtliche Alarmanlagen der Straße los. Auch wenn die eine Hälfte davon wirklich nur Attrappen war – die andere Hälfte gab ihr Bestes, um das wieder wett zumachen. In weniger als dreißig Sekunden hatte sich der Klang der Sirenen zu einer dichten Wand aus Lärm verwoben.
„Was ist das für ein verdammter Krach?“, fragte einer der Polizisten.
„Ich weiß es nicht, Sergeant. Es klingt wie viele Alarmanlagen.“
„Wollen Sie damit vielleicht sagen, dass gerade in jedem Haus in dieser Straße eingebrochen wurde? Das gefällt mir gar nicht. Sehen Sie nach, was da los ist, Hollis.“
Ronan Frost hörte das Geräusch von einem Paar Stiefel, die die Treppe hinuntergingen. Damit waren noch zwei Uniformierte im ersten Stock. Das machte die ganze Sache schon ausgewogener. Zwei Männer konnte er schnell und leise ausschalten, wenn es sein musste. Doch mit ein bisschen Glück war das vielleicht gar nicht notwendig.
„Was zum Teufel ist da draußen los?“ Der Polizist sprach in sein Funkgerät, wie Ronan klar wurde. Er konnte nicht verstehen, was die knackende Stimme antwortete. Er zweifelte nicht daran, dass Lethe in der Lage war, die Frequenzen zu stören. Wenn er die Alarmanlagen in einem ganzen Stadtviertel auslösen konnte, dann konnte er bestimmt auch Funksignale blockieren. „Bitte wiederholen“, sagte der Polizist mehrmals, er schrie fast in das Mikrofon, um das Gejaule der Alarmsirenen zu übertönen.
Geh einfach nach unten und sieh nach, was los ist
, versuchte Frost den Mann telepathisch dazu zu überreden, endlich seine Arbeit zu tun.
Es gab eine Leiche im Haus, aber es war wohl allgemein bekannt, dass Leichen nicht aufstanden und davonliefen – außer vielleicht in einem Film von George Romero. Die Frau würde nirgendwo hingehen. Draußen dagegen hätte gerade der Dritte Weltkrieg ausbrechen können, so wie es sich anhörte. Sie waren Polizisten, es war ihre verdammte Pflicht, nach draußen zu gehen und dort nach dem Rechten zu sehen.
Frost wartete. Er zählte die rhythmischen
badupp badupp
-Geräusche seines Herzschlags.
Straße für Straße gellten weitere Alarmsirenen in der Dämmerung, wie ein groteskes Morgengezwitscher. Es war ein infernalischer Krach. Ronan lag immer noch bewegungslos da. Seine Haut prickelte vor Aufregung. Er spürte, wie sich eine Spannung in ihm aufbaute, die sich in rasender Aktivität entladen wollte. Doch er wartete noch, er lag auf dem Rücken und lauschte der Kakophonie draußen. Sie klang wie Musik in seinen Ohren. Er hatte Lethe um ein Ablenkungsmanöver gebeten, und Lethe hatte ihm eines geliefert. Er konnte sich gut vorstellen, wie draußen die Leute verschlafen aus ihren Häusern kamen, sich die müden Augen rieben und fragten, was zum Henker eigentlich los war.
Mit ein bisschen Glück konnte er vielleicht schon in ein paar Minuten einfach unauffällig durch die Hintertür verschwinden. Er musste kein Houdini sein, um in der Menge der geweckten Schläfer unterzutauchen, die über den Krach schimpften.
Er hörte wieder Schritte auf der Treppe, aber es war schwer zu sagen, ob nur einer
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