Silber
machen. Das Bellen des Hundes wurde immer aggressiver, je näher er dem Maschendrahtzaun kam. Er hatte genau zwei Möglichkeiten: Entweder er schwang sich auf das Monster und machte sich aus dem Staub, oder er brachte den Hund zum Schweigen. Frost drückte sich eng an eine Betonsäule. Er sah dem Lichtkegel zu, der über den unebenen Boden schweifte. Der Hund, ein Dobermann mit einer spitzen Schnauze, zerrte an seiner Leine und grub sich dabei mit seinen Krallen in den Boden ein. Frost schlich sich geschmeidig um die Säule herum, darauf bedacht, möglichst viel Beton zwischen sich und dem Höllenhund zu haben.
Der Wächter sprach etwas in sein Funkgerät. Frost konnte ihn nicht verstehen, aber das war auch nicht notwendig. Der Mann wusste, dass jemand hier war. Aber er glaubte bestimmt, dass es Kinder waren, die in den Höfen der leerstehenden Gebäude spielten. Frost schloss die Augen und lauschte. Er achtete darauf, regelmäßig zu atmen, tief und langsam. Er hörte knirschende Schritte im Kies, so nahe, dass er sich nicht mehr ganz damit wohl fühlte.
Weshalb musste ein leerstehendes Lagerhaus dermaßen gut bewacht werden? Er hatte nirgends neu geliefertes Baumaterial für die Instandsetzungsarbeiten gesehen, also gab es nichts, das sich zu stehlen lohnte. Der Hund bellte wieder, dann knurrte er tief in der Kehle. Es war der aggressive Laut eines Raubtiers, das seine Beute in der Nähe wittert. Der Lichtstrahl der Taschenlampe bewegte sich weniger als zwei Meter von seinem Versteck entfernt über den Boden.
Frost presste sich mit dem Rücken fester an die Betonsäule, als ob er so mit ihr verschmelzen könnte.
Das Knurren nahm eine andere Tonlage an.
Dann waren plötzlich viele hektische Geräusche in der Nacht zu hören. Der Wachmann ließ den Dobermann von der Leine. Der Hund sprang nach vorn, seine Krallen scharrten erst über den harten Boden, dann schleuderten sie Kies und Erde in die Luft, als das Tier sich vom Boden abstieß und verbissen versuchte, Frosts Versteck zu erreichen. Frost bewegte keinen Muskel. Der Maschendrahtzaun lag zwischen ihnen, wodurch der Hund ihn nicht erreichen konnte. Wieder gab es mehrere Möglichkeiten, wie die Sache ausgehen konnte: Entweder würde der Wachmann den Hund wieder an die Leine nehmen, seine Runde fortsetzen, dabei Frosts Monster entdecken und feststellen, dass er es doch nicht mit ein paar spielenden Kindern zu tun hatte – in diesem Fall wäre Frost gezwungen, sich sowohl um den Mann als auch um den Hund zu kümmern, bevor die Situation außer Kontrolle geriet. Die zweite Möglichkeit bestand darin, zu der Ducati zu stürzen und so schnell wie möglich zu verschwinden – doch dann hätte er sein Überraschungsmoment verspielt, wenn in dem alten Lagerhaus tatsächlich etwas Interessantes vor sich ging. Die dritte Möglichkeit war, sich leise aus dem Staub zu machen und sich dem Gebäude von der anderen Seite zu nähern. Oder er konnte sich einfach aus der Deckung der Betonsäule lösen und zweimal den Abzug betätigen. Doch auch wenn man Ronan Frost viel nachsagen konnte, ein kaltblütiger Mörder war er bestimmt nicht. Es gab keinen Grund anzunehmen, dass es sich bei dem Mann nicht nur um einen gewöhnlichen Wachmann handelte, vielleicht um einen pensionierten Polizisten, der für einen bescheidenen Lohn im Hof des verlassenen Lagerhauses seine Runden drehte, und jugendliche Vandalen davon abhalten sollte, ins Innere zu gelangen. In diesem Fall wären die beiden Kugeln nicht nur völlig übertrieben gewesen, sondern glatter Mord.
Er nahm einen tiefen Atemzug und entfernte sich langsam von der Säule, als Lethes Stimme in seinem Ohr knackte. „Also, wenn das nicht faszinierend ist!“ Frost konnte nicht riskieren, einen Laut von sich zu geben, er konnte nur hoffen, dass Jude Lethe sich denken konnte, warum. Er lehnte sich wieder mit dem Rücken an die Säule und wartete darauf, dass Lethe weitersprechen würde. „Innerhalb der letzten drei Jahre haben die unterschiedlichen Firmen von Miles Devere neue Büros eröffnet, und zwar in Berlin, Rom, Prag, Amsterdam, Lissabon, Madrid, Paris, Wien… Soll ich weitermachen und alle dreizehn aufzählen? Devere hat in allen Städten Geschäfte getätigt, in denen unsere Archäologen sich selbst lebendig verbrannt haben. Es handelt sich dabei immer um Strohfirmen, die Datenspur ist zwar lang, aber sehr dünn. Irgendjemand will nicht, dass die Verbindung zwischen diesen Firmen entdeckt wird.
Jetzt kommt der beste Teil,
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