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Silber

Titel: Silber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steven Savile
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ersten Kehre der Treppe hatten. Es war unmöglich, die letzten zehn Stufen hinter sich zu bringen, ohne in einem Kugelhagel niedergemäht zu werden, also würde er tunlichst vermeiden, diese letzten zehn Stufen hinabzusteigen.
    Als er den Treppenabsatz im ersten Stock erreichte, ging er langsamer. Er beugte sich nach vorn und blickte erst nach unten durch das Metallgitter des Stegs, dann nach oben zur Glasdecke. Jede der riesigen Glasscheiben war fünf Meter breit, fast doppelt so lang und wurde durch Nuten in den Eisenträgern gehalten. Innerhalb einer Sekunde gab er drei Schüsse ab, von denen jeder auf die Schwachstelle in der Mitte der großen Scheiben gezielt war. Einen atemlosen Moment dachte er, dass es nicht funktionieren würde, dann zersprang das Glas unter dem Druck. Ein verästeltes Netz aus Sprüngen zog sich um die Einschusslöcher herum, die Risse drangen tief durch das Glas. Dann fiel die erste Scherbe, und plötzlich untergrub das entstandene Loch die Stabilität der gesamten großen Scheibe. Mit einem Geräusch wie ein spröder Donner regnete ein tödlicher Schauer aus Glas nach unten. Reflektiert durch die glatten Wände des Lagerhauses war der Krach ohrenbetäubend laut.
    Frost wartete nicht, bis der Schutt sich gelegt hatte. Der Scherbenregen würde ihm bestenfalls ein paar Sekunden erkaufen, in denen die Entführer Deckung suchen und ihre Gesichter schützen würden. Er jagte den letzten Treppenabsatz hinab. Einer der Entführer lag ausgestreckt vor der Mündung des Treppenschachts, gezackte Glasscherben steckten in seiner Brust und in seinem Hals. Eine zähflüssige dunkle Pfütze aus Blut breitete sich auf dem Betonboden unter seinem Kopf aus, wie die makabere Karikatur eines Heiligenscheins. Der Mann machte einen sehr toten Eindruck. Frost ging trotzdem kein Risiko ein. Er schoss ihm eine Kugel mitten ins Gesicht und trat hinaus auf den Boden des Lagerhauses. Glas knirschte unter seinen Füßen.
    Er konnte den letzten Schützen nirgends sehen.
    Er tastete mit der Hand nach der Verletzung an seiner Wange. Der Schnitt blutete stark, war aber nicht sehr tief. Er hatte Glück gehabt.
    Er überflog das Lagerhaus mit seinem Blick. Er hielt Ausschau nach Bewegungen und Schatten, die nicht ins Bild passten – nach etwas, das ihm den Standort des letzten Mannes verraten würde. Ein Teil des Hallenbodens war mit Vierzig- und kleineren Zwanzig-Fuß-Containern aus Metall zugestellt. Sie boten gute Versteckmöglichkeiten. Er konnte es nicht genau sagen, doch die Glasscherben auf dem Boden sahen nicht so aus, als ob kürzlich jemand darüber gelaufen wäre, also wandte er den Containern den Rücken zu. Wenn er den letzten Mann lebendig zu fassen bekam, gut. Wenn nicht, würde er ihm keine Tränen nachweinen. Frost befeuchtete sich die Lippen. Er konnte sein eigenes Blut auf der Zunge schmecken.
    Er hörte den Schrei einer Frau und begriff, dass der letzte Schütze zu den Geiseln gegangen war. Er hielt nicht an, er dachte nicht nach, er rannte sofort los. Er hatte nicht vor, jemanden zu verlieren – nicht jetzt, nicht so kurz vor dem Ziel.
    Der Entführer stand in der Tür. „Du!“, schrie er eine der Geiseln an und bewegte die Mündung seiner Maschinenpistole drohend durch die Luft. „Komm her!“
    Über die Schulter des Entführers hinweg konnte Frost das angstverzerrte Gesicht der Frau sehen, mit der er sich durch das Fenster unterhalten hatte. Sie stolperte mit schreckgeweiteten Augen auf ihn zu.
    Der Mann packte sie und zog sie zu sich heran, dann drehte er sich ein Stück herum. Er wollte Annie als menschlichen Schutzschild benutzen.
    „Lass sie gehen“, sagte Frost, der seine Stimme ruhig und vernünftig klingen ließ.
    Der Entführer schüttelte wild den Kopf. Seine Augen traten hervor, sie waren fast bis zum Bersten mit Blut gefüllt, das von seinem rasenden Herzen zu schnell durch den Körper gepumpt wurde. Die Angst stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben. Langsam führte er den kurzen Lauf der MP5 seitlich an den Kopf der Frau. Frost ging einen Schritt auf ihn zu, und dann noch einen, obwohl der Mann den Kopf schüttelte. Er sah nicht wie eine Ausgeburt des Bösen aus. Er sah wie ein ganz normaler Typ aus. Unauffällig. Unbeeindruckend.
    „Es muss nicht so enden“, sagte Frost.
    Sie standen knapp vier Meter voneinander entfernt. Er konnte den Schweiß des Mannes riechen. Er roch ranzig, als ob er sich seit Tagen nicht mehr gewaschen hätte. Vielleicht war das auch der Fall.

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