Silber
zu ihr hinab. „Du musst nur ganz fest die Augen zumachen, dann wird alles gut. Ich verspreche es dir.“
Er zog die Browning und hielt sie in der freien Hand. Er wollte kein Risiko eingehen.
Er führte die Frauen und Kinder nacheinander aus der provisorischen Gefängniszelle. Über die Hälfte von ihnen hatte keine Schuhe mehr. „Da draußen liegen viele Scherben auf dem Boden, vielleicht solltet ihr die Kinder besser tragen“, sagte er zu ihnen. Sie kamen seiner Aufforderung nach, ohne ein Wort zu sagen. Er führte sie durch das ramponierte Lagerhaus auf das riesige grüne Rolltor zu, das in der gegenüberliegenden Wand war. Er hörte den Höllenhund bellen, bevor er ihn sah. „Mach die Augen zu, Kleine“, flüsterte Frost in Vickys Ohr. Er spürte, wie sie sich an seine Schulter kauerte und ihr Gesicht in seinem Kragen vergrub. Einen Augenblick später stürzte der Dobermann hinter den Containern hervor, die Krallen kratzten dabei hörbar über den Betonboden. Sein rasender Galopp verschlang die Entfernung zwischen ihnen in weniger als drei Sekunden. Frost wartete bis zum letzten Moment, als der Hund sich aufbäumte, um ihm an die Brust zu springen und ihm mit den Zähnen die Kehle zu zerfetzen, dann drückte er dreimal den Abzug. Die Kugeln durchschlugen das Fell des Dobermanns dicht nebeneinander, sie bohrten sich durch Muskeln und Knochen und zerfetzten das rasende Herz des Tieres. Die Wucht des Absprungs wurde durch seinen Tod allerdings nicht gebremst. Frost drehte sich zur Seite und versuchte, dem Hund auszuweichen. Er schaffte es lediglich, ihm ein kleineres Ziel zu bieten.
Der tote Hund prallte stark genug gegen Frost, um ihn drei Schritte zurücktaumeln zu lassen, bevor er das Gleichgewicht verlor und stürzte. Das Mädchen in seinen Armen kreischte. Er sah, dass sie die Augen geöffnet hatte und in die wilden, glasigen Augen des Hundekadavers starrte, die nur wenige Zentimeter von ihrem Gesicht entfernt waren. Frost legte ihr die Hand über die Augen und beruhigte sie: „Ist schon gut, ist schon gut. Er kann dir nichts mehr tun.“
Er kämpfte sich auf die Füße.
Aus der Tatsache, dass der Hund sie hier im Lagerhaus angegriffen hatte, schloss er, dass der Nachtwächter nicht weit sein konnte.
Bei seinem Sturz hatte er die Waffe fallen lassen. Annie stand neben ihm und hielt sie in der Hand.
Aus dem Augenwinkel sah er eine Bewegung: Es war der Nachtwächter. Der letzte Mann, der zwischen ihnen und der Freiheit stand.
„Geben Sie mir die Waffe“, sagte er und streckte die Hand aus.
Annie schien ihn nicht zu hören. Sie starrte den Nachtwächter durchdringend an.
„Das wollen Sie nicht tun“, sagte Frost, der sich vorstellen konnte, was sie dachte. Das war nicht sonderlich schwer. Ihr bot sich die Chance, sich an einem der Männer zu rächen, die ihr Leben zerstört hatten. Die Pistole gab ihr die Macht dazu. Ihre Hand zitterte. Frost wusste, was gerade in ihr vorging. Er hatte es selbst durchgemacht, als er das erste Mal die Entscheidung hatte fällen müssen, ob er einen Menschen tötete oder nicht. Plötzlich wog die Waffe viel mehr als die Summe ihrer Einzelteile, viel mehr als das Metall und der Kunststoff. Sie wog so viel wie ein ganzes Leben. Die Frau musste nicht einfach nur schießen, sie kämpfte gegen das Gewicht all der ungelebten Tage und all der zukünftigen Freuden und Sorgen. „Lassen Sie mich das tun“, sagte Frost ruhig. „Das ist mein Job. Sie wollen nicht mit seinem Tod in Ihrem Kopf leben.“
„Doch“, sagte Annie. „Das muss ich sogar.“
Sie drückte den Abzug und hörte nicht auf zu feuern, bis der Mann zu Boden ging. Die beiden ersten Schüsse verfehlten ihn, sie trafen das Metalltor und hinterließen beim Aufprall kreischende Echos. Der dritte Schuss traf ihn an der Schulter. Der vierte ins Bein. Keiner davon war tödlich. Der Nachtwächter lag auf dem Boden, er schrie und bettelte.
Frost streckte wieder die Hand nach der Waffe aus.
Diesmal gab Annie sie ihm.
Er überprüfte das Patronenlager. Es war noch eine Kugel übrig.
Mehr brauchte er nicht. Er ging über den Betonboden, seine Schritte hallten laut über das Trümmerfeld voller Leichen in dem riesigen alten Gebäude. Frost stand über dem blutenden Mann. „Eine Chance“, sagte er. „Für wen arbeitest du?“
Der Mann lag auf dem Rücken und wand sich in seinem eigenen Blut. Frost hatte sich geirrt. Er umklammerte mit beiden Händen seinen Oberschenkel, wo Annies Kugel die Hauptschlagader
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