Silber
ihrer Kinder nach draußen in die Dunkelheit brachten. Nun war er plötzlich aufgetaucht, und sie durfte wieder hoffen. Doch jetzt begann sie daran zu zerbrechen. Als es keinen Ausweg gegeben hatte, war es ihr leichter gefallen, stark zu sein. In den letzten Stunden, egal, wie viele oder wenige es gewesen waren, war das Wichtigste gewesen, für ihre Kinder stark zu sein. Nun gab es Hoffnung, und Hoffnung bedeutete ein Leben jenseits ihres Gefängnisses. Wenn sie die Hoffnung auf die Flucht wieder aufleben ließ, würde sie diesmal am Boden zerstört sein, wenn sie sich nicht erfüllte. Sie musste ihr Leben diesem Fremden auf der anderen Seite der Mauer anvertrauen, und das war das einzige, was ihren Kollaps momentan verhindern konnte. Frost hatte so etwas schon einmal erlebt. Er konnte nur beten, dass sie so lange durchhielt, bis er sie befreien konnte.
Was sein weiteres Vorgehen anging, war es egal, ob es sechs oder acht Entführer waren. Selbst mit dem Vorteil der Überraschung auf seiner Seite standen die Chancen nicht besonders gut. Wie Orla zu sagen pflegte, machte es das Ganze nur noch interessanter. Er vergewisserte sich, dass eine Kugel im Lauf der Browning lag.
„Es wird alles gut“, versprach er ihr. Es war wichtig, dass sie daran glaubte. Die Hoffnung musste sie wachrütteln, sie durfte sich nicht davon lähmen lassen. „In ein paar Minuten wird alles vorbei sein.“ Er drückte sich von dem Fenster weg, bevor sie antworten konnte, und vergewisserte er sich mit einem Blick über die Schulter, dass der Wachmann nicht zurückgekommen war. Dann machte er sich auf den Weg um die Ecke des Lagerhauses.
In der nächsten Wand gab es ein weiteres grünes Rolltor, und daneben eine normale Tür. Er schlich darauf zu. Er sah ein kleines, verwittertes Notausgangs-Schild und darunter eine Warntafel, die darauf hinwies, dass die Tür alarmgesichert war. Er bezweifelte, dass der Alarm noch funktionierte, doch auf Grund der Tatsache, dass ein Nachtwächter mitsamt Dobermann über das Gelände wachte, wollte er es nicht darauf ankommen lassen.
Er suchte nach einem anderen Weg ins Innere des Lagerhauses.
Er blickte nach oben.
Eine alte, rostige Feuerleiter hing über der Tür, gerade außerhalb seiner Reichweite.
Er lächelte. Für gewöhnlich wurden die Sicherheitsvorkehrungen im dritten, vierten oder fünften Stockwerk deutlich laxer gehandhabt als im Erdgeschoß. Er trat ein paar Schritte zurück und setzte dann aus dem Lauf zum Sprung an. Frost streckte die Arme nach oben, erwischte die unterste Sprosse der Leiter und hangelte sich dann mit den Händen nach oben, bis er die Füße auf den Sprossen der Feuerleiter aufsetzen konnte. Das rostige Metall ächzte laut unter seinem Gewicht, doch er hatte keine Zeit, sich darüber Sorgen zu machen.
Er rannte die erste Treppe nach oben und über das Metallgitter des Absatzes weiter auf die zweite. Er ignorierte die erste, die zweite und auch die dritte Feuertür. Er lief direkt bis zum fünften Stock, ohne dabei durch die Metallgitter nach unten zu blicken. Die Tür war abgeschlossen, doch das Holz um das Schloss herum war so morsch, dass es nicht lange überredet werden musste, bevor es nachgab. Er rammte seine Schulter gegen die Tür, einmal, zweimal, übte Druck auf den wurmstichigen Holzrahmen aus; beim dritten Stoß zersplitterte der Rahmen, und die Tür schwang auf. Es war nicht sehr leise gewesen. Er konnte nur beten, dass es leise genug gewesen war.
Frost betrat das Gebäude. Die gewölbte Decke des alten Lagerhauses erinnerte ihn an eine Kathedrale; die Dachkonstruktion bestand aus großen Milchglasscheiben, die mit Eisenträgern eingefasst waren. Das Mondlicht fiel durch die Scheiben und warf Schatten in jeden Winkel auf dem weitläufigen Boden des Lagerhauses. Die Schienen und Winden des Deckenkrans waren noch an Ort und Stelle, obwohl die mechanischen Teile in den zwei Jahrzehnten des Nichtbetriebs bestimmt völlig festgerostet waren. Aber er hatte auch nicht vorgehabt, sich an der lose herabhängenden Kette nach unten zu schwingen wie ein Held aus einem Action-Comic.
Er nahm sich einen Moment lang Zeit, um seine unmittelbare Umgebung zu erkunden. Er befand sich auf einer Gerüstbrücke, die sich um das gesamte oberste Stockwerk der Lagerhalle zog. Auf jeder Seite des Gebäudes gab es etwa ein halbes Dutzend Türen, die, wie er mutmaßte, zu den alten Büros führten. Alle Fenster entlang des Stegs waren dunkel. In der Mitte des Betonbodens, fünf
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