Silberband 075 - Die Laren
daß die übrigen zehn Prozent mit einigermaßen heiler Haut davonkämen. Er hatte statt dessen einen anderen Plan entworfen. In dem Augenblick, in dem feststand, daß die Feldschirme der MARCO POLO in Kürze endgültig zusammenbrechen würden, sollte das Raumschiff in den Linearraum eindringen. Im Bereich der Dunkelwolke war zwar auch der Linearraum von feindseligen, unberechenbaren Kräften erfüllt. Aber Rhodan rechnete sich aus, daß er diesen Versuch, wie gefährlich er auch immer sein mochte, in dem Augenblick, in dem ohnehin alles verloren war, unbedingt unternehmen müsse.
Hung-Chuin war ein erbitterter Gegner dieses Plans. »Das geht schief!« protestierte er. »Die energetischen Ströme im Linearraum sind womöglich noch kräftiger, noch unberechenbarer als die im Einstein-Kontinuum. Sie können nicht auf eine bloße Hoffnung hin …«
»Sind Sie Ihrer Sache sicher?« unterbrach ihn Rhodan kalt.
»So sicher, wie jemand sein kann …«, versuchte Hung-Chuin zu antworten.
»Einhundert Prozent?« fuhr Rhodan ihm ein zweites Mal in die Parade. »Neunzig? Achtzig …?«
Der Wissenschaftler hob ärgerlich die Schultern. »Neunzig, würde ich sagen«, murmelte er.
»Gut. Nehmen Sie an, die Schutzschirme brechen zusammen. Was geschieht dann?«
»Die MARCO POLO wird zu Atomen zerrieben.«
»Sind Sie sicher?« erkundigte sich Rhodan ein zweites Mal.
Hung-Chuin musterte ihn überrascht. »Natürlich bin ich sicher! Jedermann weiß …«
»Einhundert Prozent? Neunzig? Achtzig …?«
»Einhundert natürlich. Es ist doch klar …« Er stieß es mit allem Nachdruck hervor, ohne zu merken, daß er blindlings in Rhodans Falle getappt war.
»Das macht«, resümierte der Großadministrator, »absolute Todesgewißheit gegen eine zehnprozentige Überlebenschance. Wie wählen Sie, Mart?«
Hung-Chuin war starr. Ärger schien sich in seiner Miene breitmachen zu wollen. Aber er wich rasch einem verlegenen Lächeln.
»Sie haben natürlich recht, Sir«, sagte der Wissenschaftler in versöhnlichem Tonfall. »Ich glaube, der Wunsch nach Gewißheit ging mit mir durch. Es ist klar, daß …«
Es schien an diesem Tag sein Schicksal zu sein, daß er ständig unterbrochen wurde. Eine Lautsprecherstimme gellte auf: »Feldschirmgeneratoren AK-zwölf und -dreizehn ausgefallen! Robotgruppe zum Einbau von Ersatzgeneratoren in den Hauptmaschinenraum!«
Perry Rhodans Blick wurde starr. Er zögerte eine Sekunde, musterte das unruhige, gleißende Flackern der Schutzschirme und nahm das Interkom-Mikrofon zur Hand. »Adler-eins an Hauptmaschinenraum. Wie sieht es aus? Wie lange halten die übrigen Generatoren noch aus?«
»Schlecht, Sir!« antwortete eine keuchende Stimme, und auf dem Interkom-Bildschirm erschien das Bild eines schwitzenden Ingenieurs. »Sämtliche Geräte fahren seit wenigstens einer Viertelstunde auf einhundertzehn bis einhundertunddreißig Prozent Vollast. Unter diesen Bedingungen können sie nicht lange durchhalten. Ich meine …«
Ein schrilles Kreischen übertönte den Klang seiner Stimme. Er wandte sich um, und als er das Gesicht wieder dem Aufnahmegerät zudrehte, glitzerte Panik in seinen Augen. »Da geht AK-siebzehn, Sir. Wenn Sie keine weiteren Fragen mehr haben, dann möchte ich …«
»Gehen Sie an Ihre Arbeit zurück!« befahl ihm Rhodan.
Er schob das Mikrofon in die Halterung zurück. Sein Blick streifte das Chronometer im Oberteil der Konsole. »In fünf Minuten gehen wir in den Linearraum«, sagte er halblaut.
Zum erstenmal seit dem Beginn der Katastrophe klang seine Stimme belegt.
»L-Zeit minus vierzig Sekunden …!« tönte Mentro Kosums Stimme durch den Kommandostand.
Absolute Ruhe beherrschte das weite Rund. Jedermann hatte seinen Platz eingenommen. Es war nicht darüber gesprochen worden, aber jedes einzelne Mitglied der Kommandostandbesatzung schien zu wissen, daß dieser Sprung in den Linearraum wahrscheinlich das letzte Manöver der MARCO POLO sein würde. Die Zahlen, die Mart Hung-Chuin in der Diskussion gebraucht hatte, hatten sich herumgesprochen. Die Überlebenschancen standen nicht besser als eins zu zehn. Die Ruhe im Kommandoraum bedeutete, daß die Männer sich zum Sterben bereit machten.
»L minus zwanzig!« rief der Emotionaut.
Seine Stimme klang unbewegter als sonst. Er hatte es aufgegeben, in Schüttelreimen zu sprechen. Die Lage vertrug keinen Humor mehr. Selbst für Galgenhumor war es zu spät. Ein Gefühl wie Rührung wallte in Perry Rhodan auf. War das
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