Silberband 081 - Aphilie
gereiht, dass beim Lesen, mehr noch beim lauten Vortrag, von ihnen eine suggestive, nahezu hypnotische Wirkung ausging. Aphiliker, die den Worten lauschten, empfanden vorübergehend wieder Liebe für den Mitmenschen. Freilich war die Wirkung nie von Dauer. Meist erlosch sie gleich nach dem Ende des Vortrags, aber die Erfahrung war doch so berauschend, dass das Buch quasi über Nacht zu dem begehrtesten Dokument geworden war, das die Menschheit jemals hervorgebracht hatte.
Kein Wunder, dass die aphilische Regierung das Buch sofort verboten hatte. Sein Besitz war ein todeswürdiges Verbrechen, ebenso seine Herstellung und Verbreitung. Aber selbst die Androhung des Todes schreckte die Menschen nicht, das Buch zu erwerben. Es entstand ein umfangreicher Schwarzmarkt, auf dem das Buch zu Fantasiepreisen gehandelt wurde. Bis schließlich die Regierung zu einem Trick griff: Sie erzeugte selbst ein Buch mit einem Text, der dem des Buches annähernd gleich war, ohne jedoch jene suggestive Wirkung zu besitzen, die das Original so begehrt gemacht hatte.
Die Wirkung blieb nicht aus. Menschen, welche die Regierungsversion unter Lebensgefahr und zu einem astronomischen Preis erstanden hatten, fühlten sich geprellt, als sie beim Lesen des Textes keine Wirkung empfanden. Die Käufer wurden misstrauisch, der Markt schrumpfte, und schließlich kam der Handel völlig zum Erliegen. Die Regierung hatte ihr Ziel erreicht. Es war ihr zwar nicht gelungen, die echten Kopien des Buches zu erfassen, aber zumindest dessen weiterer Verbreitung war Einhalt geboten.
Zu den wenigen, die das Buch besaßen, gehörten Sylvia Demmister und Sergio Percellar. Sie waren natürliche Immune und hatten sich bis zu dem Tag, an dem sie sich im Lehrsaal einer europäischen Universität zum ersten Mal begegneten, mehr schlecht als recht durchs Leben geschlagen, Teilnahmslosigkeit heuchelnd, den göttlichen Funken der Liebe unter ausdruckslosen Mienen verbergend. Sie hatten sofort Zuneigung zueinander gefasst. Auf gänzlich altmodische und unlogische Art und Weise hatten sie sich ineinander verliebt. Sylvia besaß eine Kopie des Buches. Nächtelang hatten sie beide den Text auswendig gelernt, weil sie befürchteten, dass eines Tages ein Agent der Regierung ihr Geheimnis entdecken und das Buch konfiszieren würde. Sie prägten sich die Texte des Buches in der ursprünglichen Wortfolge so nachhaltig ein, dass sie zum festen Bestandteil ihres Bewusstseins wurden.
Als die Regierung verkündete, dass im Laufe des kommenden Jahres der Personal-Identifizierungs-Kodegeber eingeführt werden sollte, wussten Sergio und Sylvia, dass ihre Stunde geschlagen hatte. Der PIK war ein winziges elektronisches Gerät, das jeder Mensch künftig im Körper tragen musste. Er strahlte in regelmäßigen Abständen ein für den Träger charakteristisches Signal aus, und dieses wurde von den Sensoren der rund um die Erde verteilten Positroniken des Personal-Überwachungs-Systems, PIMOS, ausgewertet. PIMOS war der Ansatz und die Grundbedingung für ein System, das der Regierung die totale Überwachung ermöglichen sollte.
Aber genau dieser Gedanke war Sylvia Demmister und Sergio Percellar unerträglich. Sie hatten längst von dem Gerücht gehört, dass im Inneren Borneos eine Kolonie Immuner existierte. Also machten sie sich auf den Weg nach Südostasien. Vor zwei Tagen hatten sie Bangkok erreicht und vierundzwanzig Stunden damit verbracht, unauffällig nach einer See- oder Luftverbindung nach Borneo zu forschen. Jeder Reisende nach Borneo war automatisch verdächtig, deshalb mussten sie höchst vorsichtig vorgehen. Aber dann hatte sich der Zwischenfall ereignet, der beinahe alles zunichte gemacht hätte.
Sylvia und Sergio waren Borneo nicht einen Schritt näher gekommen. Nun lagen sie am Stadtrand von Bangkok in einem Park, lauschten dem Rauschen der Blätter und starrten hinauf zu den Sternen des Mahlstroms.
Medaillons erste fahle Lichtfinger, die im Laub des Gebüschs funkelten, weckten Sergio. Einige Augenblicke lang lag er wie erstarrt und lauschte den Geräuschen des erwachenden Tages. Neben ihm lag Sylvia. Sie schlief noch. Er betrachtete sie mit einem Gefühl inniger Zärtlichkeit. Sylvia war nicht schön im klassischen Sinne, aber sie war dennoch eine überaus anziehende, erregende Frau. Selbst die Farblosigkeit und Monotonie der aphilischen Kleidung konnten die vollendeten Formen ihres Körpers nicht verbergen. Sylvia hatte dunkle Augenbrauen und langes, rötliches Haar. Da
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