Silberband 081 - Aphilie
Liebe – das ist der Funke des Göttlichen, der in uns wohnt und uns Wärme und Licht in gleichem Maße spendet. Die Liebe – das ist der Unterschied zwischen Mensch und Tier. Die Liebe – das ist die Sehnsucht des Menschen nach der alten Heimat, nach den Tagen der Sonne, nach der Geborgenheit in der Hand der göttlichen Allmacht.«
An dieser Stelle erhob sich Sergio. Was er und Sylvia abwechselnd gesprochen hatten, war die Einleitung des Buches. Es blieb nur noch ein Satz, der die Einleitung vollendete, und die Reihe war an ihm, diesen Satz zu sprechen. Mit volltönender Stimme rief er in die Nacht hinaus: »Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei, aber die Liebe ist die Größte unter ihnen.«
Neben ihm erklang leise ein uraltes Wort. Es gehörte nicht zum Text des Buches. Sylvia setzte es aus eigenem Antrieb hinzu.
»Amen …«, hörte Sergio sie sagen.
Rückblick
Vor fünfzig Jahren – im siebzigsten Jahr des Erdumlaufs um die fremde Sonne Medaillon – hatte es erste Anzeichen der nahenden Katastrophe gegeben. Sie waren mit Staunen, aber ohne Erkenntnis der drohenden Gefahr beobachtet worden. Eine bisher ungekannte Härte hatte sich in das Verhalten der Menschen eingeschlichen. Freundschaften waren zerbrochen, Kinder hatten aufgehört, ihre Eltern zu lieben, Höflichkeit und Freundlichkeit waren zu immer selteneren Tugenden geworden. Ein neuer Menschentyp war herangewachsen: der Aphiliker, ein jeglicher Emotion bares, nur nach logischen Gesichtspunkten und den Maßgaben der Urinstinkte handelndes Wesen.
Diejenigen, die vom Verlust der Emotionalität lange genug verschont geblieben waren und Zeit gehabt hatten, sich über die seltsame Veränderung Gedanken zu machen, nannten den Zustand, der den neuen Menschen charakterisierte, die Aphilie, den Mangel an Liebe, die Lieblosigkeit. Unter Liebe verstanden sie dabei nicht die körperliche Liebe, denn die blieb, als Ausfluss eines der Urinstinkte, auch dem Aphiliker erhalten. Liebe war vielmehr die Nächstenliebe, jenes undefinierbare Etwas in der Seele des Menschen, das ihn dazu veranlasste, Dinge zu tun, die seinem Nächsten nützten, ohne ihm selbst Nutzen zu bringen.
Auf der Erde machte sich das Chaos breit. Die Wissenschaftler ermittelten bald, dass es in der fünfdimensionalen Strahlung der Sonne Medaillon eine gefährliche Komponente gab, die jede Fähigkeit des Menschen zur Nächstenliebe allmählich zerstörte. Jene, die zunächst von der Aphilie verschont blieben, gaben sich alle Mühe, die Zusammenhänge zu erforschen und einen Weg zu finden, wie sie den verderblichen Einfluss unterbinden konnten. Aber die wohlmeinenden Forscher wurden gerade von jenen in ihrer Arbeit behindert, denen sie zu helfen versuchten. Denn die Aphiliker nannten die Wandlung, die sich an ihnen vollzogen hatte, den ›Sieg der reinen Vernunft‹. Sie sahen sich als eine neue Art, und die Biologen unter ihnen gaben der neuen Art den Namen ›homo sapientior‹, der ›mehr wissende Mensch‹.
Das Häuflein derer, die der Aphilie trotzten, schmolz im Lauf der Jahre dahin. Ein gewisser Rest aber blieb – Menschen, denen auf Grund ihrer psychischen Konstitution die Aphilie nichts anhaben konnte. Sie wurden zu den Ausgestoßenen der Gesellschaft, manche im allerwörtlichsten Sinne, wie zum Beispiel die Aktivatorträger aus Perry Rhodans unmittelbarer Umgebung. Es hatte sich rasch herausgestellt, dass der Besitz eines Zellaktivators den Ausbruch der Aphilie verhinderte. Nur eine einzige Ausnahme gab es. Alle anderen Aktivatorträger, auch Perry Rhodan selbst, waren gegen die Lieblosigkeit immun geblieben. Dann hatten die Aphiliker die Macht übernommen und Perry Rhodan und seine Mitarbeiter verbannt. Das war vor vierzig Jahren geschehen, und seitdem wusste niemand, was aus Perry Rhodan, den die Menschheit einst den Erben des Universums genannt hatte, geworden war.
Es gab auch natürliche Immune. Sie wurden von den Aphilikern verfolgt und hatten Mühe, wenigstens das nackte Leben zu retten. Gerüchte kursierten, dass die Immunen im Herzen der nur dünn besiedelten Insel Borneo eine Kolonie gegründet hatten, in der jeder Zuflucht finden konnte. Aus den Reihen der Immunen kam das Buch, hinter dem die Regierung der Aphiliker her war wie der Teufel hinter der armen Seele. Das Buch war eine Sammlung von Texten aus Zeiten, in denen die Liebe noch unter den Menschen lebte.
Mit dem Buch hatte es eine eigenartige Bewandtnis. Die Worte der Texte waren so aneinander
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