Silberband 081 - Aphilie
doch über die Mauer aller Gesetze kriechen und sich breit machen.«
Perry Rhodan stand stumm vor dem Fenster und starrte in die aufsteigende Nacht hinaus. Tief in seinem Herzen wuchs die Furcht, dass Orana mit ihren Behauptungen Recht haben könnte.
»Es gibt deutliche Anzeichen dafür, dass die Regierung aufmerksam wurde«, sagte die sachliche Stimme aus dem finsteren Hintergrund des Saales. »Wir müssen in Kürze auf Aktionen gegen uns vorbereitet sein.«
Sie hatten sich wieder versammelt, wie vor wenigen Tagen, auf den Ruf des Bruder-eins hin, in demselben halbdunklen Saal, in dem sie sich immer trafen und von dem sie nicht wussten, wo er sich befand. Und wie immer bei solchen Gelegenheiten gab es auch diesmal nur einen Redner: Bruder-eins, der in der undurchdringlichen Finsternis stand und den niemand sehen konnte.
»Wir müssen uns wegen dieser Aktionen nicht sorgen«, fuhr er fort. »Die Regierung weiß nicht, wo sie uns findet. Außerdem verfügen wir über Beziehungen, die uns rechtzeitig über ihre Pläne informieren werden. Aber gerade dieser Entwicklung wegen rückt der Tag unserer Machtergreifung näher. Von heute an werden wir in jeder Sekunde bereit sein, zuzuschlagen. Den Befehl dazu gebe ich. Ihr kennt den Kode, und ich bestehe darauf, dass im entscheidenden Augenblick jeder so handelt, wie es der Plan vorsieht.« Er schwieg und ließ seine Worte in ihre Bewusstseine einsinken. Dann fuhr er fort: »Eine organisatorische Änderung ist notwendig. Bruder-fünfzehn hat andere Funktionen übernommen und kann daher das vierte Regiment in der Hauptstadt nicht mehr befehligen. Deshalb wird Bruder-einundzwanzig auf diesem Posten eingesetzt.«
Sie nahmen es schweigend zur Kenntnis. Es kümmerte keinen, was mit Bruder-fünfzehn geschehen war.
»Unter uns«, begann Bruder-eins von neuem, »gibt es Wissenschaftler, auch Biologen und Anthropologen. Ich habe sie befragt und die Antwort erhalten, die ich erwartete. Was uns von den dekadenten Menschen rings um uns trennt, ist mehr als eine vorübergehende Laune der Natur. Es ist nicht nur eine Modifikation, sondern eine echte, vererbbare Mutation. In uns, Brüder, entsteht eine neue Art: der vernünftige Mensch. Die Anthropologen haben bereits einen wissenschaftlichen Namen parat. Wir sind dem dekadenten Menschen überlegen und die neue höchst entwickelte Lebensform. Schon der Name zeigt unsere Überlegenheit: Homo sapientior.«
Ein Raunen erfüllte den Raum. Nicht tosender Beifall dankte dem Redner, sondern dumpfes Gemurmel. Die Brüder empfanden keine Hochstimmung. Sie waren weder stolz auf den neuen Rang, den die Anthropologen ihnen zubilligten, noch kannten sie Verachtung für die ›armen Dekadenten‹, denen das Licht der reinen Vernunft fehlte. Denn sie hatten keine Gefühle, weder Stolz noch Verachtung, weder Liebe noch Hass. Nur eines empfanden sie: Ihre Überlegenheit über die Dekadenten war ihnen soeben bestätigt worden. Nichts konnte sie mehr aufhalten.
An diesem Tag spürte Vater Ironside kein Verlangen, das Heim der Brüder des hl. Franziskus zu verlassen. Seine Überlegungen ließen ihn nicht zur Ruhe kommen. Er suchte Antworten auf Fragen, die er sich nie zuvor in seinem Leben hatte stellen müssen. Er begann zu lesen. Das Heim verfügte über ein umfangreiches holografisches Archiv. Die Technik hatte auch vor den Kammern der Mönche nicht Halt gemacht. Die Mission der Franziskaner in Terrania City war nur eine kleine, unbedeutende Einrichtung, aber dennoch fanden sich in ihrer Bibliothek mehr Informationen als in den Büchereien des Vatikans vor fünfzehnhundert Jahren – und das auf einem Volumen, das kaum größer war als ein geräumiges Zimmer.
Vater Ironside verbrachte den größten Teil des Tages an einem Sichtgerät, von dem aus er die Texte aus der Bibliothek abrufen konnte. Die Stunden flossen dahin. Ironside las die einfachen Sätze, in denen die Weisheit der Alten zum Ausdruck kam, ebenso wie die komplizierten Wortgebilde der modernen Forscher. Er setzte keine Wertmaßstäbe. Er las alles, was ihm im Zusammenhang mit seinen Fragen wichtig zu sein schien, und allmählich verflog die Beklemmung, die ihn die ganze Nacht und den größten Teil des Tages über bedrängt hatte.
Ihm war eine Antwort zuteil geworden. Er zweifelte nicht mehr. Der, in dessen Dienst er stand, hatte ihn an seiner Weisheit teilhaben lassen und ihm die Augen geöffnet. In gelöster Stimmung empfing Ironside den Bruder Serafino, der sich den ganzen Tag
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