Silberband 081 - Aphilie
jüngeren Mann gefunden.
Einmal in den vergangenen fünf Jahren hatte ihn sein Bruder besucht, aber nur um sich zu erkundigen, wann er endlich die Aufforderung erhielt, sich im Stummhaus zu melden. Kervin erinnerte sich noch gut an das nur wenige Minuten dauernde Gespräch. Falls er wirklich einen Funken unterschwelliger Emotion verspürt hatte, so war dieser schon bei der formlosen Begrüßung und der taktlosen Frage erloschen.
»Ich glaube, es wird noch eine Weile dauern«, hatte er damals stockend hervorgebracht.
»Das glaube ich nicht, Kervin. Du bist alt genug, und die Wohnungen werden gebraucht. Im Stummhaus bist du sicher gut aufgehoben.«
»Sage doch gleich, dass ich im Totenhaus gut aufgehoben bin!«
»Vertraust du etwa diesen wilden Gerüchten?«
»Wer sagt dir, dass es nur Gerüchte sind?«
Sein Bruder hatte sich vorgebeugt und ihn forschend angesehen. »Soso, Kervin, du gehörst also zu jenen, die sich gegen die Staatsordnung auflehnen? Ich werde der zuständigen Behörde Mitteilung machen. Menschen wie du sind eine Zumutung für unsere Gesellschaft.«
Kervin hatte zur Tür gedeutet. »Es ist besser, du gehst! Ich will meine Ruhe haben.«
»Die kannst du bald haben, Kervin. Im Stummhaus.« Mit dem Satz auf den Lippen war sein Bruder gegangen und hatte sich nie mehr blicken lassen.
Das war vor zwei Jahren gewesen. Vielleicht hatte er ihn, Kervin, wirklich angezeigt, vielleicht auch nicht. Jedenfalls war er bisher nicht aufgefordert worden, sich bei einem der Stummhäuser zu melden. Sie waren der drohende Schatten, der über allen alternden Menschen schwebte. Niemand wusste genau, was sie eigentlich waren und wozu es sie gab, außer dass sie die Alten aufnahmen, aber nie wieder hergaben. Niemals war ein Mensch wieder gesehen worden, hinter dem sich die stählernen Pforten eines Stummhauses geschlossen hatten.
Kervin hatte Angst vor dem Stummhaus und wusste, dass es für ihn die Endstation sein würde. So recht konnte er nicht daran glauben, dass man ihn und die anderen, die sein Schicksal teilten, töten würde. Aber die heimlichen Gerüchte sprachen davon. In einer Welt ohne Liebe bedeuteten die Alten nur unnötigen Ballast.
Die Stummhäuser waren riesige Gebäudekomplexe, umgeben von hohen Mauern. Niemand konnte ahnen, was hinter diesen Mauern geschah. Etwas Gutes schien es jedenfalls nicht zu sein.
Kervin seufzte und beschloss, nicht länger über seine trostlose Zukunft nachzudenken. Er hatte sein Leben gelebt, so gut es eben ging. Wenn er nun seine bescheidene Wohnung mit einem Stummhaus vertauschen musste, hatte er sich damit abzufinden.
Aber bis dahin war noch Zeit. Die alte Kathleen Toaklander, die ihm gegenüber in einer ärmlichen Wohnung hauste, war mit hundertdreiundfünfzig fünf Jahre älter als er, und sie hatte die gefürchtete Aufforderung noch nicht erhalten. Sie musste zuerst an die Reihe kommen, wenn es gerecht zuging.
Was war in dieser Welt noch gerecht …?
Kervin zuckte zusammen, als der Summer ertönte und das grüne Licht über dem Empfängerkästchen aufleuchtete. Etwas war für ihn angekommen. Erleichtert atmete er auf, als ihm die Tagesration einfiel. Ein wenig mühsam stand er auf und schlurfte zu dem Fach, öffnete es und nahm den Plastikbehälter heraus, der seine Nahrungsmittel für die nächsten vierundzwanzig Stunden enthielt. Die Tür schloss sich automatisch, das Licht erlosch.
Es waren die üblichen Konzentrate, eine Flasche mit synthetischer Milch, eine Ration Kaffee und etwas Zucker.
Er erschrak, als es an der Tür klopfte. Seit zwei Jahren hatte niemand mehr an seine Tür geklopft. Vorsichtig öffnete er. Vor ihm stand Kathleen Toaklander in ihrem alten Kleid, das sie lieber trug als die üblichen Hosen. Ihr Gesicht drückte Verwirrung und Angst aus.
»Kann ich reinkommen, Kervin? Es ist etwas passiert.«
Er ließ sie ein und schloss die Tür. »Setz dich, Kathleen, und beruhige dich. Was ist denn passiert?«
Sie wartete, bis er ihr gegenüber Platz genommen hatte, dann zog sie eine bedruckte Chipkarte aus der Tasche und legte sie auf den Tisch. »Wir haben schon oft darüber gesprochen, Kervin, und nun ist es Wirklichkeit geworden. Weißt du, was das ist?«
Obwohl Caughens die Wahrheit ahnte, schüttelte er den Kopf. »Nein. Woher soll ich das wissen?«
»Es ist die Vorladung fürs Stummhaus Nr. 23 in Melbourne, nicht weit von hier. Ich soll mich in zwei Tagen dort melden – und ich darf nichts mitbringen. Hörst du? Nichts!«
Kervin
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