Silberband 088 - Der Zeitlose
Gleiters war er wohl aus der Kabine geschleudert worden. Es gab dunkle Flecken auf dem hellen Eis, die er für Blutspuren hielt. Er griff sich an die Stirn und fühlte unter dem Haaransatz eine Kruste. Das erklärte seine Kopfschmerzen. Er musste ziemlich hart aufgeschlagen sein, und in längst vergangener Zeit hätte man es wohl ein Wunder genannt, dass er mit dem Leben davongekommen war.
Er schritt das Stück ›festen‹ Bodens ab und zählte eine Länge von knapp einhundert Metern. Eine ziemlich große Eisscholle also. In einer Richtung glaubte er, im ungewissen Schimmer der Sterne eine dunkle Linie zu erkennen. Das musste die Küste sein.
Baldwin hatte bald den Eindruck, dass sich die Küstenlinie näherte. Daraufhin suchte er in den Trümmern des Gleiters nach einem Gegenstand, der ihm als Paddel dienen konnte. Er fand ein entsprechendes Stück der Verkleidung, hockte sich an den Rand der Eisscholle und begann, wie ein Verrückter zu paddeln.
Wie viele Stunden er so verbrachte, das wusste er später nicht mehr zu sagen. Er war am Ende seiner Kräfte angelangt, als es im Süden hell wurde und kurze Zeit später die Sonne über der Kimm erschien. Ihre wärmenden Strahlen gaben ihm neue Kraft, zumal er sah, dass die rettende Küste nur noch wenige hundert Meter entfernt war.
Unerwartet brach die Scholle in zwei Stücke. Der größere Teil mit dem Wrack des Gleiters neigte sich zögernd und ließ das zerstörte Fahrzeug abrutschen.
Für Tingmer wurde die Arbeit dadurch wesentlich leichter. Mit seinem Paddel brauchte er jetzt nur noch einen Bruchteil der ursprünglichen Masse zu bewegen. Bald stieß die Eisscholle knirschend auf Grund. Baldwin Tingmer watete taumelnd durch knöcheltiefes Wasser und sank erschöpft in den Schnee.
Dass er noch lebte, verdankte er einzig und allein der beheizten Montur. Sie hatte die Kälte abgehalten. Der Aufprall hatte ihm allerdings arg zugesetzt. Sobald er sich rasch bewegte, fühlte er einen stechenden Schmerz in der Brust. Wahrscheinlich hatte er sich die Rippen geprellt, hoffentlich nicht gebrochen.
Als Baldwin Tingmer sich schließlich aus dem Schnee erhob und durch den rötlichen Sonnenschein auf die Silhouetten der Häuser von Tin City zutaumelte, spürte er eine tiefe Niedergeschlagenheit. Sein großer Traum, mit Hilfe eines Polizeifahrzeugs der Gefangenschaft zu entfliehen, war ausgeträumt. Von Humley's Bar aus versuchte er, sich mit Walik Kauk in Verbindung zu setzen. Inzwischen hatte er festgestellt, dass er achtzehn Stunden lang bewusstlos gewesen war. Die restliche Zeit hinzugerechnet, hatte sein unglückseliger Ausflug mehr als einen Tag gedauert. Er hoffte, dass Kauk an seinen Standort zurückgekehrt war.
Endlos lang ließ er den Koderuf ausstrahlen. Dann gab er auf. Walik Kauk war verschwunden.
An diesem Abend rückte er Humley's Alkoholvorräten mit besonderer Entschlossenheit zu Leibe.
Die folgenden Tage verbrachte Baldwin Tingmer mit mehr oder weniger ziellosen Tätigkeiten. Aber meistens saß er in Humley's Bar und ertränkte seine Sorgen im Alkohol.
Den Strahler, den er dem leblosen Ka-zwo in der Polizeistation abgenommen hatte, trug er jetzt ständig mit sich herum, obwohl es nicht das geringste Anzeichen einer Gefahr gab. An jenem Abend, da er zum letzten Mal versuchte, Walik Kauk zu erreichen, zog er schließlich die Waffe und zerstörte den Radakom.
Wenn es ihm einfiel, durchsuchte er die Häuser von Tin City, eines nach dem anderen.
Er fand nicht viel. Höchstens die Bestätigung jener Beobachtung, die er am ersten Tag in Humley's Bar gemacht hatte: Überall gab es Anzeichen dafür, dass die Menschen jäh aus ihrem bisherigen Dasein herausgerissen worden waren. In vielen Wohnungen stand das Geschirr mit der zum Teil verzehrten Mahlzeit noch auf dem Tisch. In einer der Hütten fand Baldwin Stiefel, die so standen, wie er selbst sie sich zurechtgestellt haben würde, um sie anzuziehen. Hier hatte die Katastrophe einen erwischt, der im Begriff gewesen war, in die Stiefel zu schlüpfen.
Natürlich machte er sich Gedanken darüber, wohin die Menschen verschwunden sein konnten, und da er mehr oder weniger von Alkohol umnebelt war, schreckte er selbst vor fantastischen und grotesken Ideen nicht zurück. Eine fremde Macht musste im Augenblick der Katastrophe über die Erde hinweggefegt sein und alle Menschen mitgenommen haben, irgendein übermächtiges Geschöpf aus der fünften Dimension, für das Gebäude und Schachttiefen nichts anderes waren als
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