Silberband 099 - Treibgut der Sterne
gespürt und darin das Abbild eines zwotterähnlichen Zwerges gesehen, der ihr lächelnd zuwinkte … Die Erscheinung war verblasst, als Boyt ihr das Amulett schnell wieder weggenommen hatte.
»Jorge hat mich auf die Idee gebracht, in den Untergrund zu gehen«, sagte er eines Tages. »Ich muss mir eine Doppelexistenz aufbauen, um unerkannt zu bleiben.«
Er nahm ihr gegenüber kein Blatt mehr vor den Mund, weil er sicher sein konnte, dass sie nichts gegen ihn unternehmen würde. Sie war seine Klagemauer und vielleicht auch sein Jungbrunnen. Denn während sie einem beschleunigten Alterungsprozess unterworfen zu sein schien, war es, als hätte er die ewige Jugend gepachtet. Er war ein Kind unbestimmbaren Alters mit einem Engelsgesicht, und sie war überzeugt, dass er sich dieses Engelsgesicht bewahren würde, wie alt er auch wurde. Sie dagegen war mit 34 Jahren eine Greisin, die immer öfter an den Tod als Erlöser dachte.
Obwohl Virna ahnte, dass Boyt ihre Lebensenergie aufsaugte, war sie froh, wenn er sie besuchen kam.
»Ohne dich kann ich leben, aber ich weiß nicht, was ich ohne Jorge machen würde«, sagte er. Sie war solche harten Worte längst von ihm gewohnt.
Eine Woche später kam Jorge Bellon zu Besuch. Virna freute sich über die Abwechslung, und noch mehr freute sie sich, als sie ihm sagte, dass Boyt nicht da sei, und er ihr versicherte, dass er allein ihretwegen gekommen sei.
»Ich will mich von dir verabschieden«, sagte er. Auch Jorge war in den letzten Jahren stark gealtert. »Ich mache Schluss mit Boyt.«
»Das kannst du nicht, er braucht dich wie keinen anderen Menschen. Er hat es mir erst vor ein paar Tagen gesagt.«
Jorge lachte verbittert. »Ich habe lange genug Geduld gehabt, Virna. Ich glaubte, Boyts Entwicklung lenken zu können. Das hört sich absurd an, da er ja mich beeinflusst und mir seinen Willen aufzwingt. In der Praxis ist das aber etwas anders. Ich muss ihm zwar gehorchen und kann nichts tun, was ihm schaden würde, habe mir aber den gesunden Menschenverstand bewahrt. Ich bin sein Sklave, zugleich jedoch sein gutes Gewissen und sein schärfster Kritiker geblieben. Boyt hat nicht die Macht über mich, dass er meine Persönlichkeit ausschalten kann.«
»Boyt ist nicht wirklich schlecht, er steht jenseits von Gut und Böse«, sagte Virna.
»Das habe ich früher auch gedacht. Aber nachdem alle meine Bemühungen gescheitert sind, aus ihm ein wertvolles Mitglied unserer Gesellschaft zu machen, weiß ich, dass ich auf verlorenem Posten stehe. Boyt hat keine Moral, kein sittliches Empfinden, menschliche Werte erkennt er nicht an.«
»So darfst du von ihm nicht sprechen.«
»Es ist die Wahrheit, Virna. Boyt steht außerhalb aller Konventionen. Er ist das, was die Psychologen als gemütslos bezeichnen. Ohne Mitgefühl für andere, ohne Scham und Ehrgefühl oder Gewissen lässt er seinen Trieben ungehindert freien Lauf. Ich kann das nicht länger unterstützen. Deshalb habe ich mich für eine Expedition zum vierten Planeten des Teconteen-Systems verpflichtet. Dort hoffe ich, genügend Distanz zu gewinnen und zu einem endgültigen Entschluss zu kommen.«
»Glaubst du, dich auf diese Weise deinen Verpflichtungen entziehen zu können?«, schrie sie ihn an. »Da irrst du gewaltig, Jorge. Boyt wird dich überall aufspüren und für deinen Verrat bestrafen.«
»Das werden wir sehen. Leb wohl, Virna.«
Eine Woche später tauchte Boyt völlig verstört auf. »Der Professor ist tot«, eröffnete er Virna, die am Ende ihrer Kräfte war. »Ich wusste es schon, bevor die Nachricht eintraf, dass er bei einem Unfall auf Teconteen IV ums Leben gekommen ist. Mir war, als würde ein Stück von mir absterben.«
»Du schaffst es auch allein, mein Junge«, tröstete sie ihn und erzählte, wie schlecht Jorge über ihn gesprochen hatte.
»Dieser Hundesohn!«, schrie Boyt außer sich. »Wie kann er es wagen, mich so schmählich im Stich zu lassen! Was soll ich denn ohne ihn machen? Ich war mir seiner so sicher, dass ich mich völlig in seine Abhängigkeit begab. Jetzt habe ich nur noch dich, Virna.«
Aber er hatte sie nur noch kurze Zeit. Sie starb in seinen Armen.
Januar 3586
Der Mann steht am Fenster und blickt auf die Stadt hinaus. »Terrania«, murmelt er. »In einigen Jahren wird diese Stadt wieder zum Zentrum der Galaxis geworden sein. Es war wichtig, als einer der Ersten hier zu sein und die Entwicklung mitzubestimmen.«
Er spricht leise, wie zu sich selbst und so, dass die Frau nur
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