Silberband 101 - Eiswind der Zeit
konnten.
Erst kurz vor der larischen Invasion waren Vorbereitungen getroffen worden, NATHANs bionische Bestandteile in den Prozess der Befehlsübermittlung einzubeziehen. Das lebende Plasma von der Hundertsonnenwelt war bis dahin als reine Speichermasse betrachtet worden. Nun begann man, Teile davon zu Rechnern umzufunktionieren, die zwar wesentlich langsamer arbeiteten als NATHANs positronische Bestandteile, dafür aber die Fähigkeit besaßen, menschliche Gedanken nachzuvollziehen und sie in Hyperinpotronik-Befehle umzuwandeln.
Erst vor Kurzem war zwischen der neuen irdischen Administration und NATHAN der aktuelle Kreis von Privilegierten bestimmt worden, die berechtigt waren, über die Verbindungsstellen Kontakt aufzunehmen.
Vom Hauptquartier der Lunar Emergency Operations aus führte ein langer Gang in Richtung der Verbindungsstelle, von der aus Jentho Kanthall den Versuch unternehmen wollte, NATHAN zur Vernunft zu bringen. Ein schweres Schott teilte den Korridor in zwei Hälften. Es war mit Anweisungen in Leuchtschrift versehen, die besagten, dass im weiteren Verlauf Überwachungsmechanismen tätig waren mit der Aufgabe, Unbefugte am Betreten der Verbindungsstelle zu hindern.
Hamiller und Kanthall durchquerten die zweite Hälfte des Ganges ohne Zwischenfall. Die Kontrollmechanismen hatten ihre Berechtigung anerkannt. Vor dem Schott, das die eigentliche Verbindungsstelle verschloss, blieben beide stehen.
»Ich warte hier auf Sie«, sagte Hamiller.
»Lassen Sie sich die Zeit nicht lang werden«, antwortete Jentho Kanthall mit leisem Spott. »Wer weiß, vielleicht geraten NATHAN und ich einander dort drin in die Haare!«
Hamiller ging fünfzig Schritte den Gang zurück, kehrte um und schritt wieder auf das Schott zu. Kehrte wieder um, machte abermals fünfzig Schritte – und blieb stehen. Woran erinnerte ihn das? Der kahle Gang, das grelle Licht, dieses unruhige Auf-und-ab-Gehen?
Er sah sich um. Wände, Decke und Boden des Korridors mochten aus nacktem Mondgestein bestehen. Aber der Fels war geglättet und mit einer dicken Schicht Gussplastik überzogen worden, wie sie auch für die Innenausstattung von Raumschiffen verwendet wurde.
Das war es! Der Korridor glich dem Decksgang eines Raumschiffs! Payne Hamiller war noch nicht an Bord vieler Raumfahrzeuge gewesen, und nur in einem davon hatte er sich so lange aufgehalten, dass diese halb verdrängte Erinnerung hatte entstehen können, der er jetzt auf der Spur war. Er schloss die Augen und bildete sich ein, er höre das stete Summen, das von den Wänden an Bord eines Raumschiffs ausging und von der Tätigkeit unzähliger Maschinen kündete. Er musste seine Fantasie nicht übermäßig strapazieren. Hinter der Verkleidung der Wände, eingebettet in den Felsen, verliefen die Stränge des Klimasystems, die ähnliche Vibrationen erzeugten wie die Maschinen eines Raumschiffs.
Fünfzig Schritte, dachte Hamiller. Immer auf und ab!
»Geh nach draußen und warte auf mich!«, sagte leise eine Stimme aus ferner Vergangenheit. »Wenn es soweit ist, werde ich dich rufen.«
»Aber draußen ist es langweilig«, antwortete die Stimme eines Kindes.
»Kannst du zählen?«
»Natürlich.«
»Bis zweitausend?«
»Ja, aber es macht keinen Spaß. Die langen Zahlen bringen mich durcheinander.«
»Ich weiß, wie du ganz leicht bis zweitausend zählen kannst!«
»Wie?«, fragte die Kinderstimme.
»Geh nach draußen …«
Die Laute aus der Vergangenheit wurden schwächer. Payne Hamiller wusste mit einem Mal, woran der Gang ihn erinnerte – der Gang und die fünfzig Schritte, die er auf und ab gegangen war. Es war eine Episode aus seiner Kindheit, die wieder vor seinem geistigen Auge auftauchte. Sie war so deutlich in sein Bewusstsein eingeprägt, dass er nicht verstehen konnte, warum er sich in der Zwischenzeit nicht an sie erinnert hatte.
Payne Hamiller war damals acht Jahre alt gewesen. Er war an Bord der SOL geboren und entstammte einer traditionellen Ehe. Seine Eltern hatten keinen befristeten Ehevertrag miteinander geschlossen wie viele andere, sondern sich für alle Zeit miteinander verbunden. Payne war ihr einziges Kind.
Morgens war Payne jeden Tag zum Unterricht gegangen, am frühen Nachmittag hatte er das Gelernte jeweils vertieft. Danach war für ihn Freizeit angesagt gewesen, und an einem dieser späten Nachmittage begann das Geschehen, das ihm soeben wieder in den Sinn gekommen war.
Ein Junge namens Skarza, der den Beinamen ›der Krieger‹ für sich
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