Silberband 101 - Eiswind der Zeit
Antiquar bin, ist es logisch, dass du dich im letzten Antiquariat befindest.«
»Wo ist Meela? Außerdem weiß ich nicht, was ein Antiquariat ist.«
Der Blinde legte ihm behutsam einen Arm um die Schulter. »Ich weiß nicht, wo Meela ist«, sagte er. »Aber du befindest dich in Sicherheit, und wenn du willst, bringe ich dich zu deinen Eltern zurück.«
»Ja, das will ich!« Payne gab sich einen Ruck, aber im selben Augenblick schrie er vor Schmerz auf.
Der Alte lächelte. »Du hast dir den Leib geprellt. Das gibt sich wieder. Bleib ruhig liegen! In der Zwischenzeit erzähle ich dir, was ein Antiquariat ist.«
Payne empfand keine Furcht vor dem alten Mann, dessen Stimme einen gütigen Klang hatte und der es verstand, spannend zu erzählen. Tatsächlich war ein Antiquariat nur eine Sammlung alter Bücher. Aber woher diese Bücher kamen und wie sie an Bord der SOL gelangt waren, daraus fabulierte der Alte atemberaubende Geschichten. Payne merkte kaum, wie die Zeit verflog.
»Jetzt habe ich genug geredet«, sagte der Alte schließlich. »Du solltest versuchen, ob du jetzt aufstehen kannst.«
Mehr als zwei Stunden waren vergangen. Payne hatte immer noch Schmerzen.
»Ich weiß, wie ich dir helfen kann.«
Der Letzte Antiquar verschwand durch eine Öffnung zwischen zwei Schränken. Payne hörte ihn in dem angrenzenden Raum rumoren. Fast eine Viertelstunde verging, bis der Alte zurückkam.
Er brachte ein merkwürdiges Gebilde, ein Mineral, ein Stück Metall – jedenfalls war es unregelmäßig geformt und gerade so groß, dass ein Erwachsener es sich als Medaillon hätte um den Hals hängen können. Das Gebilde hatte einen intensiven türkisfarbenen Schimmer. Es sah fast so aus, als leuchte es von innen heraus.
»Was ist das?«, wollte Payne wissen.
»Es ist das Wunder von Zwottertracht!«, sagte der Alte mit geheimnisvoller Miene und dunkler Stimme. »Ein Wunderwerk der Künstler, die auf Zwottertracht leben und Dinge vollbringen, die ihnen kein anderes Wesen nachmachen kann!«
Schauder der Ehrfurcht und des Gruselns ließen Payne frösteln. Wie gebannt musterte er das türkisfarbene Amulett.
»Was ist Zwottertracht?«, fragte er endlich.
»Eine Welt der Geheimnisse, unendlich weit von hier, in der Milchstraße, aus der die Menschheit stammt!«
»Und wie hilft mir das Wunder, wieder gesund zu werden?«
»Indem du es in die Hand nimmst, mein Junge!«
Der Alte kniete neben Payne nieder. Langsam, als hielte er in seinen Händen eine unersetzliche Kostbarkeit, gab er das Medaillon weiter. Payne nahm es vorsichtig entgegen.
In dem Augenblick, in dem er es berührte, geschah etwas Seltsames. Ein Gefühl wohliger Wärme entstand dort, wo die Finger das Mineral berührten, und breitete sich durch den Körper aus. Mit einem Mal fühlte Payne sich glücklich und unbeschwert wie nie zuvor. Die Welt hatte ein neues Aussehen angenommen, der Letzte Antiquar schien um ein Dutzend Jahre jünger geworden zu sein.
Payne fühlte eine ungeahnte Kraft in sich überströmen. Er richtete sich von neuem auf, und diesmal empfand er nicht den geringsten Schmerz.
Dafür spürte er etwas anderes. Er glaubte plötzlich zu wissen, dass jemand ihn rufen werde. Es würde ein Ruf sein, der ihn noch glücklicher machte, als er ohnehin schon war.
So blieb er stehen, minutenlang, bis der Alte ihm das geheimnisvolle Mineral wieder abnahm. Es war aber nicht so, dass sein Glücksgefühl in dem Augenblick verschwunden wäre. Es blieb bestehen, ebenso wie die Gewissheit, dass jemand nach ihm rufen werde.
»Das gefällt dir, nicht wahr?«, fragte der Alte.
»Sehr sogar!«
»Dann will ich dir etwas sagen. Ich bin ein alter Mann, und ich werde nicht mehr lange bleiben. Nach meinem Weggehen sollst du das Wunder von Zwottertracht haben. Einverstanden?«
Augenblicklich war Paynes Glück getrübt. Es bedrückte ihn, den Alten von seinem Tod sprechen zu hören. »Lass es mich nur ab und zu anfassen!«, antwortete er entschlossen. »Ich will, dass du noch lange lebst!«
So begann die Freundschaft zwischen Payne Hamiller und dem Letzten Antiquar, die über ein Standardjahr andauerte. In dieser Zeit sonderte sich Payne immer mehr von seinen Altersgenossen ab. Er belegte in der Schule Extrakurse und wurde in kurzer Zeit zu einem Schüler, von dem die Lehrer behaupteten, er habe die Anlagen zu einem Genie.
Niemandem erzählte er von dem Letzten Antiquar, doch er nutzte jede Gelegenheit, um seinen Freund zu besuchen. Sie lasen Bücher, und später,
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