Silberband 101 - Eiswind der Zeit
als Erwachsener, erkannte Payne Hamiller, dass es in der Hauptsache diese Bücher gewesen waren, die in ihm den Entschluss geweckt hatten, die SOL zu verlassen und auf Terra zu bleiben.
Er lernte viel in dieser Zeit und bekam ein anderes Bild von der Geschichte der Menschheit als jenes, das die Lehrer zu vermitteln suchten. Von ihnen hatten sich viele damit abgefunden, ihr Leben an Bord der SOL zu beschließen, deshalb ließen sie das ruhelose Dasein der Solaner in günstigem Licht erscheinen.
Bei vielen Besuchen holte der Letzte Antiquar das Wunder von Zwottertracht hervor. Paynes Gefühl, sobald er das Amulett berührte, war jedes Mal dasselbe: Ruhe, Frieden, Kraft – und zugleich die Gewissheit, dass jemand ihn rufen werde.
Der Ruf kam dennoch nicht.
Eines Tages geschah das, woran Payne Hamiller sich im Innern des Mondes wieder erinnert hatte:
Der Antiquar schien nicht da zu sein. Doch auf Paynes Ruf antwortete ein Stöhnen aus dem angrenzenden Raum. Payne fand seinen Freund auf dem Boden kauernd, mit eingefallenem Gesicht und einem irrlichternden Funkeln in den blinden Augen.
»Es geht mir nicht gut«, ächzte der Alte. »Aber das wird bald vorüber sein.«
»Wie kann ich dir helfen?«, fragte Payne. »Sag mir, wo das Wunder von Zwottertracht ist! Ich gebe es dir, und bald geht es dir wieder gut.«
»Nein, das ist es nicht.« Der Alte lächelte matt und schüttelte den Kopf. »Ich … es wird nur noch wenige Minuten dauern. Willst du mir einen Gefallen tun?«
»Jeden!«
»Dann warte draußen auf mich! Wenn es soweit ist, werde ich dich rufen.«
»Aber draußen ist es so langweilig.«
»Kannst du zählen?«, fragte der Alte.
»Ja, natürlich.«
»Bis zweitausend?«
»Aber das macht keinen Spaß. Die langen Zahlen bringen mich durcheinander.«
»Ich weiß, wie du ganz leicht bis zweitausend zählen kannst! Geh nach draußen, in den Gang. Geh fünfzig Schritte nach rechts. Dann dreh dich um und komm zurück, wieder fünfzig Schritte. Wenn du anfängst, zählst du eins, und jedes Mal, wenn du dich umdrehst, zählst du eins weiter. Wie oft wirst du dich umdrehen müssen, bis du auf zweitausend kommst?«
»Vierzig Mal«, antwortete Payne.
»Falsch!«
»Wieso falsch, ich …«
»Weil du dich beim ersten Mal nicht umdrehst. Du zählst neununddreißig Mal. Und wenn du nach dem neununddreißigsten Mal fünfzig Schritte getan hast, dann bist du genau auf zweitausend.«
Nun, da Payne Hamiller darüber nachdachte, kam ihm zu Bewusstsein, dass es wohl niemanden gab, der es einem Jungen so schmackhaft machen konnte, bis zweitausend zu zählen, wie dies der Letzte Antiquar getan hatte. Das Resultat war jedenfalls gewesen, dass Payne hinaus auf den Gang trat und vierzigmal fünfzig Schritte abmaß. Dann wartete er. Aber der Alte kam nicht, um ihn zu rufen. Payne ging ein weiteres Tausend. Schließlich packte ihn die Ungeduld und er stürmte in das Antiquariat zurück. »Wo bist du?«, schrie er. »Warum rufst du mich nicht?«
Er bekam keine Antwort. Er lief in den angrenzenden Raum, wo er den Alten zuletzt gesehen hatte. Aber auch da war er nicht. Payne suchte und fand einen dritten Raum, der mit altem Gerümpel vollgepfropft war. Auch dort fand er nicht, wonach er suchte.
Der Letzte Antiquar war von jenem Tag an verschwunden. Allmählich festigte sich in Payne Hamiller die Überzeugung, dass der Mann gestorben sei. Er konnte sich zwar nicht vorstellen, wohin die Leiche geraten sein mochte, aber das riesige Schiff steckte voll Geheimnisse. Es war selbst für einen achtjährigen Jungen durchaus denkbar, dass der Letzte Antiquar sich in irgendeinen unauffindbaren Winkel zurückgezogen hatte, um dort allein und unbeobachtet zu sterben.
Schließlich entsann Payne sich, dass der Alte ihm das Türkismineral als Erbe versprochen hatte. Er begann, nach dem seltsamen Amulett zu suchen, doch leider erfolglos.
Danach vergingen Jahre. Erst als Payne Hamiller fünfzehn Jahre alt war, sprach er zu einem Dritten von seiner Bekanntschaft mit dem Alten. Es stellte sich heraus, dass niemand je von einem Letzten Antiquar gehört hatte. Das machte Payne stutzig. Er ging dorthin, wo man die Personaldaten aller Personen an Bord der SOL speicherte, und er bekam eine Sondererlaubnis, sich die Dateien anzusehen. Schließlich war er klug genug gewesen, seine Neugierde mit einer Semesterarbeit zu tarnen.
Dabei fand er heraus, dass es seit dem Start der SOL von der Erde keinen einzigen Vermissten gab.
Payne durchsuchte auch
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